Das letzte Experiment
ein, dass Pieck behauptet hatte, Elisabeth hätte ihm eine Woche vor ihrem Tod den Laufpass gegeben, weil sie ihn ertappt hatte, wie er in ihrem Tagebuch las. In Elisabeths Augen war das ein unverzeihlicher Vertrauensbruch gewesen, und ich konnte ihre Empörung gut verstehen: Im Verlauf der Jahre habe ich eine Menge privater Tagebücher zu lesen bekommen, und es war nicht immer zum Besten derSchreiber. Grund jedenfalls war mit Piecks Erklärung nicht zufrieden gewesen. Er hatte sich das Tagebuch beschafft und herausgefunden, dass Elisabeth die Angewohnheit hatte, darin ihren Menstruationszyklus festzuhalten, indem sie die entsprechenden Tage mit dem griechischen Buchstaben Omega gekennzeichnet hatte. In den Wochen vor ihrer Ermordung hatte ein Sigma das Omega in Elisabeths Tagebuch ersetzt, was Heinrich Grund zu der Annahme geführt hatte, dass Elisabeth möglicherweise schwanger gewesen war. Er hatte Pieck verhört und ihm gegenüber angedeutet, dass dies der eigentliche Anlass gewesen sein könnte, weshalb Pieck das Tagebuch seiner jungen Freundin gelesen hatte. Und dass er ihr offenbar dabei geholfen hätte, eine illegale Abtreibung zu organisieren. Trotz eines sich über mehrere Tage hinziehenden Verhörs hatte Pieck alles beharrlich abgestritten. Mehr noch – er hatte ein bombenfestes Alibi in Gestalt seines Vaters vorweisen können, der rein zufällig der Polizeichef von Günzburg gewesen war, mehrere hundert Kilometer südlich von Berlin.
Weder Elisabeths Hausarzt noch irgendeine ihrer Schulfreundinnen hatten etwas von einer Schwangerschaft gewusst. Doch Grund hatte herausgefunden, dass Elisabeth ein wenig Geld von ihrem Großvater geerbt und damit ein Sparkonto eingerichtet und dass sie am Tag vor ihrem Tod fast die Hälfte des Geldes abgehoben hatte. Das Geld war nicht bei der Toten gefunden worden. Grund hatte geschlussfolgert, dass Elisabeth – nach einhelliger Meinung aller Befragten eine intelligente, findige Person – durchaus imstande gewesen war, sich allein um eine Abtreibung zu kümmern, falls Pieck sich geweigert hätte, ihr zu helfen. Und dass Anita Schwarz möglicherweise das Gleiche getan hatte. Und dass diese Abtreibungen schiefgelaufen waren. Dass der Engelmacher versucht hatte, seine Spuren dadurch zu verwischen, dass er den Tod seiner «Patientinnen» wie Lustmorde aussehen ließ.
Ich fand nicht viel auszusetzen an Grunds Schlussfolgerungen. Und doch war es nie zu einer Verhaftung wegen der Morde gekommen.Die Spuren schienen alle im Sand verlaufen zu sein, und nach 1933 gab es überhaupt nur noch zwei Notizen in der Akte. Eine besagte, dass Walter Pieck 1934 zur SS gegangen und Wachmann im Konzentrationslager Dachau geworden war. Die andere betraf den Vater von Anita Schwarz, Otto.
Er war 1933 als Stellvertreter von Kurt Daluege zur Berliner Polizei gegangen und in der Folge zum Richter bestellt worden.
Ich stand von meinem Schreibtisch auf und ging zum Fenster. Die Lichter auf der anderen Straßenseite im Finanzministerium brannten noch. Wahrscheinlich überlegte man dort fieberhaft, was man gegen die überhandnehmende Inflation in Argentinien unternehmen konnte. Entweder das, oder die Beamten leisteten Überstunden, weil sie überlegten, woher sie das Geld für Evitas extravaganten Juwelenschmuck nehmen sollten. Die Straße unten war voller Menschen. Aus irgendeinem Grund drängte sich eine lange Menschenschlange vor dem Arbeitsministerium. Und es herrschte Verkehr, jede Menge Verkehr. In Buenos Aires herrschte ständig Verkehr: Taxis, Kleinbusse, Kleinstwagen, amerikanische Limousinen und Laster – alles durcheinander wie die wirren Gedanken im Gehirn eines Detektivs. Der Verkehr draußen vor meinem Fenster bewegte sich ausnahmslos in eine Richtung. Genau wie meine Gedanken.
Ich sagte mir, dass ich möglicherweise gerade mehr oder weniger alles herausgefunden hatte.
Anita Schwarz musste schwanger geworden sein, und weil Herr und Frau Schwarz den Skandal gefürchtet hatten, der sich ergeben würde, wenn die Tätigkeit ihrer behinderten Tochter als Amateurprostituierte öffentlich werden würde, hatten sie den Medizinmann aus München für die Abtreibung bezahlt. Wahrscheinlich hatte sie deswegen so viel Geld in der Tasche gehabt. Dummerweise war die Abtreibung misslungen und die Patientin gestorben. Um seine Spuren zu vertuschen, hatte der Engelmacher versucht, Anitas Tod wie einen Lustmord aussehen zu lassen. Genau wie er es in Münchengetan hatte. Schließlich war es besser
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