Das letzte Experiment
eben bei Spionen. Sie kommen leicht auf den Gedanken, dass sie selbst ausspioniert werden.
Die Akten der Berliner Kripo von 1932 lagen aufgeschlagen vor mir auf dem Schreibtisch. Der Karton, in dem die Akten lagen, war wie eine Zeitmaschine: Alles war so lange her, und zugleich erschien es mir wie gestern. Was hatte Louis Adlon noch zu sagen gepflegt? Der Fluch des Konfuzius – mögest du in interessanten Zeiten leben. Ja, das war es. Ich hatte interessante Zeiten hinter mir, keine Frage. Mein Leben war interessanter verlaufen als das der meisten anderen.
Inzwischen war meine Erinnerung an jene letzten Monate der Weimarer Republik zurückgekehrt. Ich hatte den Fall Anita Schwarz nur deswegen nicht gelöst, weil ich nach meiner Unterhaltung mit Kurt Melcher nie wieder für die Mordinspektion gearbeitet hatte.Nach meiner Rückkehr aus dem einwöchigen Urlaub trat ich meinen neuen Posten im Aktenarchiv an – wider alle Vernunft und in der Hoffnung, dass die SPD das Ruder noch einmal herumreißen und die Republik zu neuer Kraft führen könnte. Die Hoffnung sollte sich nicht erfüllen.
Die Wahlen am 31. Juli 1932 verschafften den Nazis weitere Sitze im Reichstag, auch wenn sie immer noch nicht die erforderliche Mehrheit hatten, die Hitler ermächtigt hätte, eine Regierung zu bilden. Das Unglaubliche geschah danach, als sich die Kommunisten im Parlament auf die Seite der Nazis schlugen, um ein Misstrauensvotum gegen von Papens glücklose Regierung zu erzwingen. Wieder einmal wurde der Reichstag aufgelöst, wieder einmal wurden Neuwahlen anberaumt, diesmal für den 6. November. Und wieder einmal erhielt die Republik eine Gnadenfrist, als die Nazis die absolute Mehrheit knapp verfehlten. Jetzt war von Schleicher an der Reihe, sich im Amt des Reichskanzlers zu versuchen. Er hielt zwei Monate durch. Ein weiterer Putsch war vorhersehbar. Und weil er verzweifelt jemanden suchte, der Deutschland regieren könnte, entließ Hindenburg den inkompetenten Schleicher und beauftragte Adolf Hitler – den einzigen politischen Führer, der noch nicht Kanzler gewesen war – mit der Bildung einer handlungsfähigen Regierung.
Keine dreißig Tage später hatte Hitler sichergestellt, dass es keine weiteren ergebnislosen Wahlen mehr geben würde. Am 27. Februar 1933 brannte er den Reichstag nieder. Die Revolution der Nazis hatte begonnen. Nicht lange danach verließ ich die Polizei und trat eine Stelle im Hotel Adlon an. Ich vergaß Anita Schwarz. Und ich sprach nie wieder mit Ernst Gennat. Nicht einmal dann, als ich auf Bitten von General Heydrich fünf Jahre später an den Alex zurückkehrte.
All das lag in der Aktenschachtel. Meine Notizen, meine Berichte, mein Journal, meine Anmerkungen, Illmanns gerichtsmedizinischer Befund, meine ursprüngliche Liste von Verdächtigen.Und mehr. Viel mehr. Weil ich erst jetzt begriff, dass in der Aktenschachtel nicht nur der Fall Anita Schwarz ruhte, sondern auch die Akte über den Mord an Elisabeth Bremer. Nachdem ich die Mordinspektion verlassen hatte, war der Fall Schwarz an Heinrich Grund übergeben worden, meinen einstigen Assistenten, und es war ihm gelungen, sich Herzefeldes Unterlagen aus München schicken zu lassen. Zu meiner Überraschung blickte ich auf genau die Unterlagen, derentwegen ich in jenem schicksalhaften Juli 1932 von Berlin nach München gereist war.
Herzefelde hatte den größten Teil seiner Ermittlungen auf Walter Pieck konzentriert, einen zweiundzwanzig Jahre alten Mann aus Günzburg. Pieck war Elisabeths Schlittschuhlehrer im Prinzregentenstadion in München gewesen. Im Sommer hatte er als Tennislehrer im Ausstellungspark gearbeitet. Er war außerdem Mitglied des rechtsgerichteten Stahlhelm gewesen und seit 1930 in der nationalsozialistischen Partei. Es fiel mir schwer, zu begreifen, was ein zweiundzwanzig Jahre alter Mann in einem fünfzehnjährigen Mädchen gesehen haben konnte. Zumindest so lange, bis ich einen Blick auf ein Foto von Elisabeth Bremer geworfen hatte. Sie sah aus wie Lana Turner, und genau wie Lana Turner füllte sie jeden Zoll des Pullovers aus, den sie auf dem Foto trug. Die glücklichsten Momente meines Lebens waren die wenigen gewesen, die ich zu Hause am Busen meiner Familie verbracht hatte. Sie wären womöglich noch glücklicher gewesen, hätte meine Familie einen Busen wie Elisabeth Bremer besessen. Ich hatte schon größere gesehen, doch nur als Galionsfigur von Piratenschiffen.
Beim Lesen von Herzefeldes Notizen fiel mir wieder
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