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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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für ihn, wenn die Polizei nach einem irren Lustmörder suchte als nach einem inkompetenten Arzt. Viele Frauen starben durch illegale Abtreibungshelfer. Ich erinnerte mich an einen Fall, bei dem ein Zahnarzt in der württembergischen Stadt Ulm in den zwanziger Jahren mehrere schwangere Frauen, die wegen einer Abtreibung zu ihm gekommen waren, versehentlich beim Geschlechtsverkehr stranguliert hatte.
    Je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir meine Theorie. Der Mann, den ich damals gesucht hatte, war ein Arzt oder Medizinstudent, irgendetwas in der Art, und stammte mit großer Wahrscheinlichkeit aus München. Mein erster Gedanke war der Urologe, Dr.   Kassner, bis mir einfiel, dass ich sein Alibi überprüft hatte. Am Tag der Ermordung von Anita Schwarz war er in Hannover auf einem Urologenkongress gewesen. Und dann fiel mir der junge Freund seiner geschiedenen Frau ein, der dunkelhaarige Bursche aus München mit dem kleinen offenen Opel. Beppo hatte er geheißen. Ein eigenartiger Name für einen Deutschen. Kassner hatte gesagt, dass Beppo an der Münchner Universität studierte. Möglicherweise Medizin? Andererseits – wie viele Studenten hätten sich einen so schicken neuen Opel leisten können? Es sei denn natürlich, Beppo hatte seine Einnahmen dadurch aufgebessert, dass er illegale Abtreibungen vornahm. Möglicherweise sogar in Kassners Wohnung, solange der außer Haus war. Und falls sich dieser Beppo – wie viele ahnungslose Studenten, die zum ersten Mal mit Berlins weltberühmtem Nachtleben in Kontakt kamen – eine Geschlechtskrankheit zugezogen hatte, wer hätte ihm besser helfen können als Kassner mit Prontosil, der neuen Zauberkugel gegen diese Erkrankungen?
    Es hätte auf jeden Fall erklärt, warum Kassners eigene Adresse in der Liste der Verdächtigen auftauchte, die ich mit Hilfe des Teufelsverzeichnisses und der kopierten Namensliste aus Kassners Büro angefertigt hatte. Also Beppo. Der Mann, den ich vor Kassners Wohnungstür angetroffen hatte. Warum nicht? Ich würde ihn leichtwiedererkennen, falls er irgendwie hierhergekommen war, nach Argentinien. Und falls er nach Argentinien gekommen war, bedeutete das natürlich auch, dass er aus Deutschland hatte flüchten müssen. Irgendetwas bei der SS vielleicht. Nicht, dass er mir als idealer S S-Typus erschienen war. Nicht damals, 1932.   Damals suchten sie Kerle, die arisch aussahen. Blond, blauäugig, hochgewachsen, wie Heydrich. Wie mich. Ganz bestimmt nicht wie Beppo.
    Ich versuchte ihn mir ins Gedächtnis zu rufen. Mittelgroß, gutaussehend, aber dunkelhäutig. Ja, wie ein Zigeuner. Die hatten die Nazis fast so sehr gehasst wie die Juden. Andererseits wäre Beppo nicht der Erste gewesen, der zur SS gegangen war, obwohl er nicht dem perfekten arischen Rassebild entsprach. Himmler beispielsweise. Oder Eichmann. Aber wenn Beppo eine medizinische Qualifikation hatte vorweisen können, und wenn er nachgewiesen hatte, dass seine Familie seit mindestens vier Generationen frei gewesen war von «nichtarischem» Blut, hätte er sogar in das medizinische Korps der Waffen-SS gekonnt. Ich beschloss, Dr.   Vaernet zu fragen, ob er sich an einen solchen Mann erinnerte.
    «Sie machen Überstunden, wie ich sehe.» Es war Colonel Montalban.
    «Ja. Nachts kann ich besser denken. Wenn alles ruhig ist.»
    «Ich bin mehr ein Morgenmensch.»
    «Sie überraschen mich. Ich dachte, Sie ziehen es vor, Menschen mitten in der Nacht zu verhaften?»
    Er lächelte. «Da muss ich Sie enttäuschen. Wir ziehen es vor, unsere Verhaftungen am frühen Morgen durchzuführen.»
    «Ich werde es mir merken.»
    Er kam zum Fenster und deutete auf die Leute, die draußen Schlange vor dem Arbeitsministerium standen. «Sehen Sie diese Leute? Auf der anderen Seite der Avenida Irigoyen? Sie wollen alle zu Evita.»
    «Ich dachte mir schon, dass es ein wenig spät ist, um wegen einer Arbeit anzustehen.»
    «Evita verbringt jeden Abend dort, die halbe Nacht», sagte Montalban. «Sie gibt den Armen und Kranken und Obdachlosen Geld und Rat.»
    «Sehr nobel. Und in Wahljahren außerdem sehr pragmatisch.»
    «Das ist nicht der Grund, aus dem sie es tut. Sie sind ein Deutscher. Ich erwarte nicht, dass Sie es verstehen. Haben die Nazis Sie so zynisch gemacht?»
    «Nein. Ich bin seit März 1915 zynisch.»
    «Was war im März 1915?»
    «Die zweite Ypernschlacht.»
    «Aha.»
    «Ich denke manchmal, wenn wir die gewonnen hätten, dann hätten wir den ganzen Krieg gewonnen. Es wäre

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