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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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wer er war und welche Verbrechen er begangen hatte. Ich hielt es nicht für sonderlich riskant, einen Blick in ein paar andere, fremde Akten zu werfen. Die einzige Frage war, wie ich das anstellen wollte.
    In Berlin waren sämtliche bekannten und mutmaßlichen Feinde des Dritten Reichs in der sogenannten A-Kartei erfasst worden, die sich im Amt IV des Reichssicherheitshauptamts in der Prinz-Albrecht-Straße befunden hatte. Die A-Kartei war die modernste Kriminaldatei der Welt, jedenfalls hatte Heydrich das damals zu mir gesagt. Die Datei umfasste eine halbe Million Karteikarten mit Informationen über Personen, welche die Gestapo eventuell beobachten wollte. Sie war untergebracht in einem großen, horizontal montierten Karteikarussell, das von einem elektrischen Motor angetrieben wurde. Ein spezieller Operator konnte jede der fünfhunderttausend Karten in weniger als einer Minute lokalisieren. Heydrich, ein überzeugter Anhänger der alten Theorie, dass Wissen Macht bedeutet, nannte sie sein «Glücksrad». Heydrich hatte die alte politische Polizei Preußens revolutioniert und den SD zu einem der größten Arbeitgeber in Deutschland gemacht. Schon 1935 arbeiteten allein in Berlin mehr als sechshundert Beamte im Archiv der Gestapo.
    In Buenos Aires gab es nichts auch nur annähernd Vergleichbares, auch wenn das System in der Casa Rosada halbwegs zufriedenstellend funktionierte. Ein Stab von zwanzig Leuten arbeitete in fünf Schichten rund um die Uhr im
archivo
. Es wurden Akten geführt über oppositionelle Politiker, Gewerkschaftsführer, Kommunisten, linke Intellektuelle, Parlamentsabgeordnete, unzufriedene Armeeoffiziere, Homosexuelle und religiöse Führer. Die Akten wurden in einem mobilen Regalsystem verwahrt, das mit Hilfe eines Systems aus verriegelbaren Handrädern bedient wurde. Eine Reihe von ledergebundenen Büchern, genannt
los libros marronés
, diente als Index, der nach Namen und Themen gelistet war. Der Zugang zu den Akten wurde lediglich mit Hilfe der Unterschrift kontrolliert, essei denn, die Akte galt als geheim – in diesem Fall war der Eintrag in
los libros marronés
in roter Tinte geschrieben.
    Der leitende Beamte im Archivo, der
oficial registro
, hatte die Aufsicht über die Ausleihe sämtlichen Aktenmaterials. Ich kannte inzwischen zwei dieser Registraturbeamten einigermaßen gut. Ich hatte ihnen gegenüber erwähnt, dass ich früher bei der Berliner Polizei gewesen war, und in dem Bemühen, mich bei ihnen einzuschmeicheln, hatte ich sie mit Anekdoten aus dem Gestapo-Aktensystem unterhalten. Was ich ihnen erzählt hatte, basierte auf meinen Erfahrungen in den wenigen Monaten, die ich nach meiner Versetzung aus der Mordinspektion im Archiv verbracht hatte, das andere erfand ich einfach dazu. Nicht, dass die Registraturbeamten den Unterschied bemerkt hätten. Einer von ihnen, den ich nur beim Vornamen kannte – Marcello   –, sah im Gestapo-System ein Vorbild zur Modernisierung des Archivs des SIDE. Ich hatte ihm versprochen, ihm beim Verfassen eines detaillierten Memos zu helfen, das er dem Chef des SIDE, Rodolfo Freude, zukommen lassen wollte.
    Ich wusste, dass Marcello Dienst im
archivo
hatte. Als ich durch die Schwingtür kam, sah ich ihn wie üblich an seinem Platz hinter dem Hauptschalter. Der Schalter war rund, und mit der argentinischen Flagge an der Wand dahinter und den bajonettbewehrten Soldaten rechts und links erinnerte er mich an das Reduit einer alten Festung. Nur, dass Marcello nicht in dieses Bild passte. In seiner schlechtsitzenden Uniform sah er aus wie einer jener babygesichtigen Kindersoldaten, die während der letzten Tage Berlins eingezogen worden waren, um Hitlers Bunker gegen die Russen zu verteidigen.
    Ich brachte die aktualisierten Akten über Carl Vaernet und Pedro Olmos zurück und bat um die Akte über Helmut Gregor. Marcello nahm die zurückgebrachten Akten entgegen, suchte in
los libros marronés
nach dem Namen Helmut Gregor und beauftragte anschließend einen seiner untergebenen Beamten, die Akte aus dem Archiv zu holen. Ich beobachtete, wie der Beamte das Handradkurbelte wie ein Mann, der ein Schleusentor öffnet, bis das betreffende Regal weit genug auf unsichtbaren Schienen hervorgerollt war.
    «Erzählen Sie mir mehr über Ihre A-Kartei », forderte mich der italienischstämmige Marcello auf.
    «Also schön», ließ ich mich überreden in der Hoffnung, ihn für mich einnehmen zu können. «Es gab drei unterschiedliche Gruppen von Karten. In Gruppe eins

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