Das letzte Experiment
Tisch vor uns lag eine neue Ausgabe der
Freien Presse
, der deutschsprachigen Nazi-Tageszeitung. Auf einem weiteren Tisch lag die Fotografie eines Mannes in Überfallhosen auf einem Fahrrad. Eine weitere Fotografie zeigte denselben Mann mit weißer Fliege und weißen Handschuhen in einem Frack an seinem Hochzeitstag. Der Mann auf den Fotos hatte einen Schnurrbart, und das machte es mir einfacher, mich an ihn zu erinnern: Es war der Mann, dem ich auf den Stufen von Dr. Kassners Haus in Berlin im Jahr 1932 begegnet war. Der Mann, der sich Beppo genannt hatte. Er war derselbe Mann, der sich inzwischen Helmut Gregor nannte, und sah nicht viel anders aus als damals. Er war nicht ganz vierzig, und sein Haar war immer noch dicht und braun mit nur einer Andeutung von Grau. Sein Mund stand leicht offen, und er hatte die Oberlippe zurückgezogen wie ein Hund, der im Begriff steht, zu knurren oder zuzubeißen. Seine Augen waren anders, als ich sie in Erinnerung hatte: misstrauisch und wachsam und voller dunkler Geheimnisse.
«Es tut mir leid, Sie beim Essen zu stören», sagte ich und deutete auf ein Glas Milch und ein Sandwich, das unberührt auf einem silbernen Tablett auf dem Boden neben seinem Stuhlbein lag. Zugleich fragte ich mich, ob Milch und Sandwich nicht vielleicht für seine junge Besucherin gedacht gewesen waren.
«Ist in Ordnung. Was kann ich für Sie tun?»
Ich ratterte die übliche Geschichte von einem argentinischen Reisepass herunter und dem Führungszeugnis und dass alles im Grund genommen nur eine Formalität war, weil ich selbst ein ehemaliger S S-Kamerad war und wusste, was sich unter alten Kameraden gehörte. Als er dies vernahm, fragte er mich nach meinem Kriegsdienst aus, und nachdem ich ihm die zensierte Version geliefert hatte, die meine Zeit beim German War Crimes Bureau, beim Büro für Deutsche Kriegsverbrechen, ausließ, schien er sich ein wenig zu entspannen. Wie eine Angelleine, die sich auch erst entspannt, nachdem sie minutenlang im Wasser gewesen ist.
«Ich war auch in Russland», sagte er. «Mit dem Sanitätskorps der Division Wiking. Wir haben bei der Schlacht um Rostow mitgekämpft.»
«Soll hart gewesen sein, habe ich gehört.»
«Es war überall hart.»
Ich öffnete die Akte, die ich mitgebracht hatte. Helmut Gregors Akte. «Wenn ich ein paar grundlegende Details überprüfen dürfte?»
«Selbstverständlich.»
«Sie wurden geboren am …?»
«16. März 1911.»
«In?»
«Günzburg.»
Ich schüttelte den Kopf. «Das ist irgendwo an der Donau, nicht wahr? Mehr weiß ich leider nicht. Ich selbst komme aus Berlin. Nein, warten Sie – ich kannte jemanden aus Günzburg. Einen Mann namens Pieck. Walter Pieck. Er war ebenfalls bei der SS. ImKonzentrationslager Dachau, glaube ich. Vielleicht kannten Sie ihn?»
«Ja. Sein Vater war der Polizeichef von Günzburg. Wir kannten uns flüchtig vor dem Krieg. Aber ich war nie in Dachau. Ich war nie in irgendeinem Konzentrationslager. Wie ich bereits sagte, ich war bei der Waffen-SS. Bei der Division Wiking.»
«Und was hat ihr Vater gemacht? In Günzburg?»
«Er hat landwirtschaftliche Maschinen gebaut. Das heißt, er baut sie noch heute. Dreschmaschinen und dergleichen. Nichts besonders Aufregendes oder so, aber ich glaube, er ist immer noch der größte Arbeitgeber in der Stadt.»
«Oh», sagte ich mit gezücktem Stift. «Bitte entschuldigen Sie – ich habe eine Frage vergessen. Name des Vaters und der Mutter bitte. Vor- und Zunamen.»
«Ist das wirklich notwendig?»
«Es ist völlig normal bei einem Antrag auf einen Reisepass.»
Er nickte. «Karl und Walburga Mengele.»
«Walburga. Ein ungewöhnlicher Name.»
«Ja, nicht wahr? Walburga war eine englische Heilige, die in Deutschland gelebt hat und dort gestorben ist. Ich nehme an, Sie haben schon einmal von der Walpurgisnacht gehört? Der Nacht zum 1. Mai? Das war die Nacht, in der ihre Gebeine von einer Kirche in eine andere umgebettet wurden.»
«Ich dachte immer, es wäre eine Art Hexensabbat?»
«Ich glaube, das ist es außerdem», sagte er.
«Sie sind also Josef. Hatten Sie Brüder oder Schwestern?»
«Zwei Brüder. Alois und Karl junior.»
«Keine Sorge, wir sind fast durch, Dr. Mengele», sagte ich grinsend.
«Ich würde es vorziehen, wenn Sie mich Gregor nennen. Dr. Gregor.»
«Ja, natürlich. Bitte entschuldigen Sie. Nun ja – wo haben Sie Ihren Abschluss gemacht?»
«Warum ist das von Bedeutung?»
«Sie praktizieren noch als Arzt, oder
Weitere Kostenlose Bücher