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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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die Stufen hinunter, als wäre jede einzelne davon einen halben Meter hoch. Ich beobachtete sie durch das Teleskop. Sie ließ den Kopf hängen, als wäre er ihr zu schwer, doch nicht so schwer wie ihre Lider. Sie sah aus, als wäre sie narkotisiert worden. Der Mann ging vor und klopfte an das Fenster des Streifenwagens. Der Uniformierte setzte sich ruckhaft auf, als hätte ihn etwas gepikst. Der Mann öffnete die hintere Beifahrertür des Streifenwagens und drehte sich nach dem Mädchen um, das inzwischen einfach stehengeblieben war, auch wenn man es kaum als Stehen bezeichnen konnte. Sie erinnerte an einen Baum, der im Begriff stand, umzustürzen. Sie war ganz blass im Gesicht, hatte die Augen geschlossen und atmete tief durch die Nase, offenbar, um nicht in Ohnmacht zu fallen. Der Mann legte den Arm um ihre Taille. Im nächsten Moment beugte sie sich vor und übergab sich in den Gully. Der Mann drehte sich zu dem Uniformierten um und sagte etwas in scharfem Ton. Der Polizist stieg aus, legte das Mädchen auf den Rücksitz des Streifenwagens. Er schloss die Tür, setzte seine Mütze ab, wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn und sagte etwas zu dem Mann, der sich vorbeugte und dem Mädchen auf dem Rücksitz durch die Scheibe hindurch zuwinkte, bevor er zurücktrat und wartete. Er sah sich um. Er sah in meine Richtung. Ich parkte ungefähr dreißig Meter entfernt. Ich war ziemlich sicher, dass er mich nicht entdecken würde. Ich hatte richtig vermutet, er sah mich nicht. Der Streifenwagen setzte sich in Bewegung, der Mann winkte ein letztes Mal hinterher und kehrte dann ins Haus zurück.
    Ich schob das Fernrohr zusammen und legte es ins Handschuhfach. Ich schluckte einen Mundvoll Cognac aus dem Flachmann in meiner Tasche und stieg aus dem Wagen. Ich nahm eine Akte und einen Notizblock vom Beifahrersitz, rückte mein Schulterhalfter zurecht, rieb die immer noch empfindliche Narbe an meinem Hals und stieg die Stufen zur Veranda hinauf. Der Hund fing erneut an zu bellen. Die Katze, die ein bisschen wie ein Staubwedel aussah, saß auf der weißen Balustrade und musterte mich misstrauisch. Sie war ein minderer Dämon, die Vertraute ihres diabolischen Besitzers.
    Ich zog an der Türglocke, vernahm ein Glockenspiel, das klang wie von einem Uhrenturm, und starrte nach hinten zur Straße hinaus. Die Frau mit dem rosafarbenen Morgenmantel hatte angefangen, sich anzuziehen. Ich beobachtete sie immer noch, als sich hinter mir die Tür öffnete.
    «Den Postboten überhören Sie ganz bestimmt nicht», sagte ich in reinem Hochdeutsch. «Nicht bei einer Türglocke wie dieser. Sie läutet so lang wie ein himmlischer Chor.» Ich zeigte ihm meinen Dienstausweis. «Ich würde gern nach drinnen kommen und Ihnen ein paar Fragen stellen», begann ich.
    In der Luft hing ein starker Geruch nach Äther, ein Grund, weshalb ihm mein Besuch offensichtlich unangenehm war. Doch Helmut Gregor war ein Deutscher, und Deutsche wussten, dass man sich mit Behörden besser nicht anlegte. Die Gestapo existierte offiziell zwar nicht mehr, doch die Idee und der Einfluss jener Institution lebten in den Köpfen aller Deutschen weiter, die alt genug waren, um den Unterschied zwischen einem Ehering und einem Schlagring aus Messing zu kennen. Ganz besonders in Argentinien.
    «Dann kommen Sie doch herein», sagte er und trat höflich zur Seite. «Herr   …?»
    «Hausner», sagte ich. «Carlos Hausner.»
    «Ein Deutscher, der für den staatlichen Geheimdienst arbeitet. Das ist recht ungewöhnlich, finden Sie nicht?»
    «Ich weiß nicht. Es gab einmal eine Zeit, da waren wir ziemlich gut in diesen Dingen.»
    Er lächelte dünn und schloss die Tür.
    Wir standen in einer Halle mit hoher Decke und einem Marmorfußboden. Ich konnte einen kurzen Blick in einen Raum am anderen Ende der Halle werfen, der wie ein Operationssaal eingerichtet war. Gregor schloss hastig die Milchglastür.
    Er zögerte, als überlegte er, ob er mich zwingen sollte, meine Fragen im Stehen in der Halle zu stellen. Doch dann schien er seine Meinung zu ändern, denn er führte mich in ein elegant eingerichtetes Wohnzimmer. Unter einem kunstvoll verzierten goldgerahmten Spiegel gab es einen eleganten Kamin aus Stein, vor dem ein chinesischer Teetisch aus Hartholz sowie zwei einladende lederbezogene Lehnsessel standen. Gregor bedeutete mir, in einem davon Platz zu nehmen.
    Ich setzte mich und sah mich um. Auf einem Sideboard stand eine Sammlung von versilberten Kürbisflaschen, und auf dem

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