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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Punkten, dazu eine große rosafarbene Teerose auf der Schulter, eine mit Diamanten und Rubinen besetzte Halskette. Sie hatte ein dazu passendes Lächeln aufgesetzt.
    «Irgendwann werden wir unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika verbessern müssen, wenn Argentinien den wirtschaftlichen Reichtum zurückerlangen will, über den es vor einer Dekade noch verfügt hat», sagte der Colonel. «Aus diesem Grund mag es irgendwann politisch angemessen erscheinen, den einen oder anderen unserer berüchtigteren Einwanderer zu bitten, Argentinien zu verlassen und sich ein anderes Land als Wohnsitz auszusuchen. Paraguay zum Beispiel. Paraguay ist ein primitives, gesetzloses Land, in dem selbst die Schlimmsten unbehelligt leben können. Verstehen Sie – die ganze Zeit über haben Sie diesem Land einen großen Dienst erwiesen, für das es Ihnen eines Tages – sogar schon sehr bald, wie ich vermute – danken wird.»
    «Ich fühle mich schon ganz patriotisch.»
    «Bewahren Sie sich dieses Gefühl. Sie werden es brauchen, wenn Sie Evita treffen. Die Frau ist die patriotischste Person, die ich jemals gesehen habe.»
    «Gehen wir zu Evita?»
    «Ja. Übrigens   – Sie erinnern sich, dass ich von Beziehungen gesprochen habe, als ich erfuhr, dass Peróns Männer Sie verhaftet und nach Caseros gebracht hatten? Nun, diese Beziehungen waren Evita. Sie ist Ihre neue Beschützerin. Es wäre vielleicht nicht die schlechteste Idee, sich das zu merken.»
    Colonel Montalban blieb vor einer schweren Holztür stehen. Auf der anderen Seite wartete, dem Klang nach zu urteilen, ein Bienenstock. Montalban musterte mich von oben bis unten und reichte mir einen Kamm. Ich ordnete hastig meine Haare und gab ihn zurück.
    «Wenn ich gewusst hätte, dass ich heute Abend die Frau des Präsidententreffe, hätte ich mir einen neuen Anzug gekauft», sagte ich. «Vielleicht hätte ich sogar gebadet.»
    «Glauben Sie mir, Evita wird nicht merken, wie Sie riechen. Nicht in diesem Saal.»
    Er öffnete die Tür, und wir betraten einen holzvertäfelten Raum von der Größe eines Tennisplatzes. Am gegenüberliegenden Ende befand sich ein weiteres, größeres Gemälde von Evita. Darauf trug sei ein blaues Kleid und lächelte auf eine Gruppe von Kindern herab. Hinter ihrem Kopf war ein helles Licht, und hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich gesagt, dass sie einen Ehemann mit Namen Joseph hatte und einen Sohn, der Zimmermann war. Der Saal war voll mit Menschen und dem Gestank ihrer ungewaschenen Leiber. Manche waren behindert, andere waren schwanger, die meisten sahen aus, als wären sie arm. Sie alle schienen zuversichtlich, dass die Frau, die sie zu sehen hofften, niemand Geringeres war als die Madonna von Buenos Aires,
la Dama de la Esperanza
. Niemand drängelte oder schubste. Jeder hatte einen Nummernzettel, und in unregelmäßigen Abständen kam ein Beamter in den Saal und rief eine Nummer aus. Dies war jedes Mal das Signal für eine unverheiratete Mutter, eine obdachlose Familie oder eine verkrüppelte Waise, nach vorn zu treten und im Allerheiligsten empfangen zu werden.
    Ich folgte dem Colonel in den dahinterliegenden Raum. Hier stand an einer Wand ein langer Mahagonitisch mit drei Telefonen darauf sowie vier Vasen mit Calla-Blüten. Es gab ein mit Goldbrokat bezogenes Sofa und drei dazu passende Sessel sowie vier Sekretärinnen, die Notizblock und Stifte oder Telefon oder einen Umschlag voller Geld hielten. Evita selbst stand vor dem Fenster, das weit geöffnet war, um den Gestank der ungewaschenen Leiber ein wenig erträglicher zu machen. Der Gestank war hier drin viel stärker als draußen im Saal, weil der Raum viel kleiner war.
    Sie trug ein taubengraues robenartiges Kleid mit einem Gürtel um die Taille. Auf dem Revers war eine Brosche aus kleinen Saphiren und Diamanten, welche die Form und die Farben der argentinischenNationalflagge bildeten. Wahrscheinlich war es in ihren Augen reines Glück, dass sie nicht mit dem deutschen Präsidenten verheiratet war. Mit den Farben Schwarz, Rot und Gold hätte ein Juwelier nicht viel anfangen können. Am Finger der linken Hand hatte sie einen Diamantring von der Größe einer Seeanemone, deren Brüder und Schwestern an den Ohren baumelten. Auf dem Kopf trug sie ein mit Rubinen besetztes kleines Barett aus grauer Seide, das mehr nach Lucrezia Borgia aussah als nach Heiliger Mutter Gottes. Sie sah alles andere als krank aus. Jedenfalls nicht halb so krank wie die bis auf die Knochen

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