Das letzte Experiment
Anziehen. All meine weltlichen Besitztümer. Ich hätte gern gesehen, wie sich der junge Werther mit Bernie Gunthers Sorgen herumgeschlagen hätte.
Ich schenkte mir etwas zu trinken ein, stellte das Schachbrett auf, schaltete das Radio ein und setzte mich in den Lehnsessel.
In einem Umschlag, den die Lloyds mir auf das Zimmer gelegt hatten, lagen Anrufnotizen. Sämtliche Anrufe mit einer Ausnahme kamen von Anna Yagubsky. Die Ausnahme war eine gewisse Isabel Pekerman. Ich kannte keine Isabel Pekerman.
Im Radio sang Augustin Magaldi ein Stück aus den dreißiger Jahren,
Vagabundo
. Es war damals ein Riesenerfolg gewesen. Ich drehte das Radio aus und ließ mir ein Bad ein. Ich überlegte, ob ich nach draußen gehen und mir etwas zu essen besorgen sollte, und schenkte mir stattdessen einen weiteren Drink ein. Ich wollte gerade zu Bett gehen, als das Telefon erneut läutete. Es war Mrs. Lloyd.
«Eine Señora Pekerman möchte Sie sprechen.»
«Wer?»
«Sie hat schon einmal angerufen. Sie sagt, Sie würden sie kennen.»
«Danke, Mrs. Lloyd. Bitte stellen Sie sie durch.»
Es klickte einige Male, und ich hörte soeben noch, wie sich am anderen Ende eine Frauenstimme bedankte.
«Señora Pekerman? Mein Name ist Carlos Hausner. Ich glaube nicht, dass wir bereits das Vergnügen hatten.»
«Doch, das hatten wir.»
«Dann wissen Sie mehr als ich, Señora Pekerman. Ich fürchte, ich kann mich nicht an Sie erinnern.»
«Sind Sie allein, Señor Hausner?»
Ich sah mich in meinen vier kahlen, schweigsamen Wänden um, betrachtete die halbleere Flasche und mein hoffnungsloses Schachspiel. Ich war allein, jawohl. Draußen vor meinem Fenster waren Menschen auf der Straße, aber sie hätten genauso gut auf dem Saturn sein können, so wenig hatte ich mit ihnen zu tun. Manchmalmachte mir die profunde Stille meines Zimmers richtig Angst, weil sie das Echo meiner innere Leere zu sein schien. Auf der anderen Straßenseite begann die Kirchenglocke von Santa Catalina de Sienna zu läuten.
«Ja, ich bin allein, Señora Pekerman. Was kann ich für Sie tun?»
«Man hat mich gebeten, morgen Nachmittag wieder vorbeizukommen, Señor Hausner», sagte sie. «Aber ich habe eben eine kleine Rolle in einem Stück in Corrientes angeboten bekommen. Es ist nur eine kleine Rolle, aber es ist eine gute Rolle in einem guten Stück. Abgesehen davon haben sich die Dinge seit unserer letzten Begegnung geändert. Anna hat mir alles über Sie erzählt. Dass Sie ihr helfen bei der Suche nach ihrer Tante und ihrem Onkel.»
Ich zuckte zusammen und fragte mich, wie vielen Leuten sie das wohl erzählt hatte.
«Wann genau sind wir uns begegnet, Señora Pekerman?»
«Im Haus von Señor von Bader. Ich war die Frau, die sich als seine Ehefrau ausgegeben hat.»
Sie stockte. Ich ebenfalls. Oder besser gesagt, mein Herzschlag. «Erinnern Sie sich jetzt an mich?»
«Ja. Ich erinnere mich. Der Hund wollte nicht bei Ihnen bleiben. Er kam mir und von Bader hinterher.»
«Nun, das liegt daran, dass er nicht mein Hund ist, Herr Hausner», sagte sie, als hätte ich immer noch nicht begriffen, wovon sie redete. «Um ehrlich zu sein, ich hätte nicht gedacht, dass Sie neue Informationen über Annas Onkel und Tante ausgraben. Aber das haben Sie. Es ist nicht viel, aber es ist immerhin etwas. Ein Beweis dafür, dass sie in dieses Land gekommen sind. Sehen Sie, ich sitze im gleichen Boot wie Anna. Ich bin ebenfalls Jüdin. Und ich habe ebenfalls Verwandte, die illegal nach Argentinien gekommen und irgendwann verschwunden sind.»
«Ich denke, Sie sollten kein Wort mehr am Telefon sagen, Señora Pekerman. Vielleicht können wir uns treffen und über alles reden.»
An den Abenden, an denen sie nicht auf der Bühne stand und schauspielerte, arbeitete Isabel Pekerman in einer
milonga
, einer Art Tango-Club auf der Avenida Corrientes. Ich wusste nicht viel über den Tango, außer, dass seine Ursprünge in den argentinischen Bordellen lagen. Der Club Seguro schien auf diese Ursprünge zu verweisen. Unter einem kleinen Neonschild ging es ein paar Stufen nach unten und durch einen Hof, der von einer einzelnen nackten Flamme erhellt wurde. Aus den flackernden Schatten näherte sich ein großer, breiter Mann – der
vigilante
, der die Tür bewachte. Er hatte eine Pfeife um den Hals, um die Polizei zu alarmieren für den Fall eines Disputs, den er nicht allein bewältigen konnte.
«Tragen Sie ein Messer?», fragte er mich.
«Nein.»
Er schien überrascht ob meiner
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