Das letzte Experiment
Aufwachen dachte ich über das nach, was Isabel Pekerman mir über den weißen Sklavenhandel in Argentinien erzählt hatte. Ich fragte mich, ob es möglicherweise eine Verbindung gab zu Perón und Mengele und Peróns Vorliebe für junge Mädchen. Nichts von all dem ergab einen rechten Sinn. Ich verrannte mich und brauchte dringend ein wenig Ablenkung. Ich hatte den ganzen Morgen Zeit, bevor ich mit von Bader und dem Colonel verabredet war, also ging ich nach dem Frühstück zum Richmond auf der Suche nach einem Gegner für eine Partie Schach.
Melville war da, und ich spielte eine Caro-Kann-Verteidigung, die mir in einunddreißig Zügen zu einem so glatten Sieg verhalf, dass David Bronstein stolz auf mich gewesen wäre. Anschließend ließ ich mich von ihm zu einem Drink einladen, und wir setzten uns für eine Weile nach draußen und sahen zu, wie die Welt an uns vorbeizog. Normalerweise schenkte ich dem Geschwätz des kleinen Schotten keine oder nur wenig Beachtung. An diesem Morgen jedoch lauschte ich seinen Worten mit größerer Aufmerksamkeit als gewohnt.
«Das war ein verdammt hübsches Ding, das Sie letzte Woche dabeigehabt haben», beobachtete er neidvoll.
«Ja, nicht wahr?», sagte ich in der Annahme, dass er von Anna redete.
«Viel zu groß für mich, leider», sagte er und lachte.
Melville war nicht größer als eins sechzig. Rothaarig, bärtig, mit einem verschlagenen, zahnlückigen Grinsen erinnerte er an einender Narren, die der spanische Hof sich zum Amüsement gehalten hatte.
«Für mich müssen sie kleiner sein, viel kleiner», fügte er hinzu. «Und das bedeutet im Allgemeinen auch jünger.»
Ich spitzte die Ohren. «Wie viel jünger?», fragte ich.
«Das Alter ist eigentlich nicht wichtig», sagte er. «Nicht für einen Halbzwerg wie mich. Ich muss nehmen, was ich kriegen kann.»
«Sicher. Aber es gibt jung, und es gibt zu jung, oder nicht?»
«Tatsächlich?» Er lachte auf. «Also ich weiß nicht.»
«Na ja – wie jung ist zu jung? Sie müssen doch eine Vorstellung haben?»
Er dachte ein paar Sekunden lang nach, dann zuckte er schweigend die Schultern.
«Wie alt war die Jüngste, die Sie je hatten?»
«Was geht das Sie an?»
«Es interessiert mich, das ist alles. Ich meine, bei manchen Mädchen, die man heutzutage so trifft, na ja … es fällt schwer zu sagen, wie alt sie sind.» Ich hoffte, ihn über ein Thema auszuhorchen, obwohl es ihm offenbar jetzt schon unangenehm wurde. «Das Makeup. Ihre Klamotten. Manche von ihnen haben Erfahrungen, die weit über das hinausgehen, was für ihr Alter normal wäre. Daheim in Deutschland bin ich ein paarmal nur knapp davongekommen, das kann ich Ihnen verraten. Natürlich war ich damals viel jünger, und Deutschland war Deutschland. Nackte Mädchen in den Clubs und in den Parks. Vor den Nazis war Sonnenanbetung – Naturalismus nannten sie es – ganz groß in Mode. Wie ich bereits sagte, es war Deutschland. Sex war eine nationale Freizeitbeschäftigung. Die Weimarer Republik war berühmt dafür. Aber das hier? Argentinien ist ein katholisches Land. Ich hätte geglaubt, dass die Dinge hier ein wenig anders gehandhabt werden.»
«Dann sind Sie auf dem Holzweg, wie?» Melville stieß sein hysterisches Lachen aus. «Um die Wahrheit zu sagen – dieses Land ist ein Paradies für Perverse wie mich. Das ist einer der Gründe, warumich hier lebe. All die unreifen Früchte. Man muss nur zugreifen und sie vom Baum pflücken.»
Erneut spitzte ich die Ohren. Die Castellano-Phrase, die Melville für die minderjährigen Mädchen benutzt hatte, war
fruta inmadora
– ganz genau der gleiche Ausdruck, den der Colonel benutzt hatte, um Peróns Vorliebe zu schildern.
«Ich weiß nicht, wie es in Deutschland war», sagte Melville. «Ich war nie selbst dort, aber es muss schon verdammt gut gewesen sein, um Argentinien zu schlagen, was die
lecheras
angeht.»
«Lecheras?»
«Milchmägde.»
Ich nickte. «Stimmt das, was ich gehört habe? Dass der Präsident sie ebenfalls ganz jung mag?»
Melville schürzte die Lippen und blickte erneut ausweichend drein.
«Vielleicht ist das der Grund, weswegen Sie ungeschoren davonkommen mit Ihrer Vorliebe», spottete ich.
«Wie Sie das sagen, klingt es wie ein Verbrechen, Hausner.»
«Ist es keins? Ich weiß es nicht.»
«Diese Mädchen wissen, was sie tun, glauben Sie mir.» Er drehte sich eine dünne Zigarette und steckte sie sich mit einem Streichholz an. Sie entzündete sich knisternd, und er nahm einen ersten
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