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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Appetit auf all die üblichen Laster und ein paar weniger übliche obendrein.»
    «Ich werde versuchen, mir das zu merken», sagte sie. «Wenn ich das nächste Mal wach im Bett liege und nicht schlafen kann, denke ich darüber nach.»
    «Wie alt waren Ihre Schwestern, als sie nach Argentinien kamen?»
    «Vierzehn und sechzehn.»
    «Gibt es in Buenos Aires so etwas wie einen weißen Sklavenmarkt?»
    «Hören Sie, es gibt fast überall auf der Welt einen Markt für so etwas! Mädchen gehen von zu Hause weg, haben kein Geld, keine Papiere, es gibt keinen Weg zurück. Sie müssen arbeiten, um die versteckten Kosten ihrer Überfahrt zu bezahlen. Ich hatte reines Glück, dass mir dieses Schicksal erspart geblieben ist. Was ich mache, mache ich freiwillig. Mehr oder weniger jedenfalls.»
    «Wer besorgt den Handel?»
    «Sie meinen, den mit den Mädchen?»
    Ich nickte.
    «Erstens geschieht es nicht mehr so häufig. Es gibt kaum noch Nachschub. Die Verkäufer sind üblicherweise die gleichen Leute, die den Mädchen die Überfahrt organisieren. Schiffskapitäne, Erste Offiziere aus Städten wie Marseille, Bilbao, Vigo, Oporto, Teneriffa, selbst Dakar. Junge Mädchen wie meine Schwestern sind ‹Untergewicht›. Ältere gelten als ‹Übergewicht›. Ganz junge Mädchen gelten als ‹Zerbrechlich› – zu jung, um während der Überfahrt jemals ans Tageslicht zu kommen. Der Handel wird von einem Polen namens Milhanovich kontrolliert, von Montevideo aus. Die meisten Schiffe legen zuerst in Montevideo an, bevor sie nach Buenos Aires weiterfahren. Manche Mädchen bleiben in Uruguay, aber die meisten werden hierher geschickt, nach Buenos Aires, wo durch ihren Verkauf mehr Geld zu verdienen ist. Milhanovich macht seine Geschäfte fast nur mit dem
Centre
. So nennen wir das Verbrechersyndikat in dieser Stadt. Es heißt so, weil die Basis in dem Gebiet zwischen Corrientes, Belgrano, den Docks und San Nicolas liegt. Es wird hauptsächlich von zwei französischen Familien geführt, eine aus Marseille, die andere aus Paris. Jedenfalls, die Männer vom
Centre
kaufen die Mädchen, machen sie gefügig und schicken sie in die
casitas
von Buenos Aires zum Anschaffen.» Sie schüttelte bitter den Kopf. «Diese Stadt ist ein Moloch. Irgendetwas aus der Zeit des Jüngsten Gerichts.»
    Ich zündete mir eine weitere Zigarette an und ließ den Rauch in meine Augen steigen. Ich wollte meine Augen dafür bestrafen, dass sie in Isabels Ausschnitt gafften, anstatt in ihr Gesicht, wo ich sie dringender benötigte, um herauszufinden, ob sie die Wahrheit sagte. Aber ich glaube, genau aus diesem Grund wurden Ausschnitte in erster Linie erfunden. Um Männer abzulenken.
    Ich verlagerte mein Gewicht auf dem Stuhl und sah mich um. Nach den Worten von Isabel Pekerman hatte Buenos Aires ziemlich viel Ähnlichkeit mit Berlin in den letzten Tagen der Weimarer Republik. In meinen zynischen alten Augen hingegen war bis jetztnoch nichts mit der alten deutschen Hauptstadt vergleichbar gewesen. Die tanzenden Mädchen hatten immer noch ihre Sachen an, und die Männer, die ihre Partner waren, waren wenigstens Männer, jedenfalls die meisten, und nicht irgendein Zwischending. Die Band traf die Noten, und niemand war blasiert. Ich zweifelte nicht an dem, was Isabel Pekerman gesagt hatte, doch wo Berlin mit seinen Lastern und seiner Korruption geradezu geprotzt hatte, verbarg Buenos Aires seinen Appetit auf Verderbtheit wie ein alter Priester seinen Flachmann, aus dem er immer wieder heimliche Schlucke nahm.
    Isabel Pekerman ergriff meine Hand und studierte meine Handfläche. Sie fuhr mit dem Zeigefinger die verschiedenen Linien und Erhebungen entlang, dann sagte sie: «Nach Ihrer Hand zu urteilen, werden wir heute Nacht wohl doch zusammen verbringen.»
    «Wie ich bereits sagte, ich hatte einen höllisch anstrengenden Tag.»
    «Ich könnte in einem schlechten Licht dastehen, wenn Sie mich nicht nehmen», sagte sie und widersprach damit dem, was sie vorher behauptet hatte. «Schließlich haben Sie bezahlt dafür. Der blaue Vincent wird denken, ich hätte mein Sexappeal verloren.»
    «Nein, bestimmt nicht. Nicht, wenn er Augen im Kopf hat.»
    Sie legte die Arme um mich. «Nein? Komm schon. Es wird sicher gut. Es ist eine Ewigkeit her, dass ich mit einem Kerl geschlafen habe, den ich wirklich mochte.»
    «So ist das Leben», entgegnete ich und erhob mich zum Gehen.
    Wie sich herausstellte, wäre ich besser geblieben.

NEUNZEHN
BUENOS AIRES
1950
    Am nächsten Morgen nach dem

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