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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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tiefen Zug, sodass fast ein Drittel der Zigarette herunterbrannte.
    «Wohin würde ich gehen?», fragte ich beiläufig. «Ich hatte überlegt, mir auch eine Frucht vom Baum zu pflücken, wie Sie so schön sagen.»
    «Einer der
Pesar-poco -Läden
unten im Hafen von La Boca», sagte er. «Aber jemand müsste Sie einführen. Ein Mitglied.» Er grinste selbstgefällig. «Beispielsweise ich.»
    Ich unterdrückte meinen Impuls, ihm eins aufs Kinn zu geben, und lächelte stattdessen. «Abgemacht», sagte ich.
    «Leider ist die Szene nicht mehr das, was sie mal war», sagte er. «Gleich nach dem Krieg wurde das Land mit untergewichtigem Gepäcküberschwemmt. So nannten wir die richtig zerbrechlichen
fruta inmadora
aus Europa. Kleine jüdische Jungfrauen, die in ein besseres Leben entkommen waren – dachten sie. Alle ohne Ausnahme auf der Suche nach ihrem
caballero blanco
. Nur wenige haben einen gefunden. Andere wurden groß und gingen auf den Strich. Der Rest   … wer weiß?»
    «Ja, wer weiß? Wie ich gehört habe, sollen viele dieser illegalen Juden von der Geheimpolizei aufgegabelt worden sein   … um auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.»
    Melville schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. «In Argentinien verschwindet früher oder später jeder mal. Das ist eine verdammte nationale Freizeitbeschäftigung. Die
porteños
leiden wegen allem möglichem Scheiß an Depressionen und ziehen sich für eine Weile zurück. Früher oder später tauchen die meisten wieder auf, ohne ein Wort der Erklärung. Als wäre nichts gewesen. Was die Juden angeht, nun ja, meiner Erfahrung nach sind sie ja ganz besonders melancholisch. Wenn ich das so sagen darf, ist das größtenteils die Schuld Ihrer Landsleute, Hausner.»
    Ich nickte und räumte ein, dass er recht hatte.
    «Nehmen Sie Perón», fuhr er fort. «Er war Vizepräsident und Kriegsminister in der Regierung von General Edelmiro Farrell. Dann verschwand er. Seine eigenen Kollegen hatten ihn verhaftet und auf der Insel Martín García ins Gefängnis gebracht.» Allmählich erwärmte er sich für sein Thema. «Seine Frau Evita organisierte Massendemonstrationen, und eine Woche später war er wieder da. Sechs Monate darauf ist er selbst Präsident. Er verschwindet, er kommt zurück. Es ist eine sehr argentinische Geschichte.»
    «Nicht jeder hat eine Evita», entgegnete ich. «Und nicht jeder, der verschwindet, taucht auch wieder auf. Sie können nicht bestreiten, dass die Gefängnisse voll sind mit politischen Gegnern Peróns.»
    «Man kann kein Omelett zubereiten, ohne Eier zu zerschlagen. Abgesehen davon sind die meisten dieser Leute Kommunisten.Möchten Sie vielleicht, dass dieses Land in die Hände der Kommunisten fällt, wie Ungarn oder Polen oder Ostdeutschland? Wie Bolivien?»
    «Nein. Bestimmt nicht.»
    «Nun dann. Wenn Sie mich fragen, die Regierung tut ihr Bestes. Argentinien ist ein gutes Land. Vielleicht das beste Land in ganz Südamerika. Mit exzellenten Aussichten auf wirtschaftliches Wachstum. Ich lebe viel lieber in Argentinien als in Großbritannien. Auch ohne die unreifen Früchte.»
    Melville schnippte den Zigarettenstummel auf die Straße. Ich hätte ihn am liebsten genauso auf die Straße geschnippt.
    «Was machen Sie überhaupt hier, Melville?», fragte ich ihn, bemüht, mir meine Verärgerung über ihn nicht anmerken zu lassen. «Ich meine, welchen Beruf üben Sie aus? Welche Arbeit?»
    «Das hab ich Ihnen schon mal erzählt», sagte er. «Offensichtlich haben Sie nicht zugehört, hahaha. Aber es ist kein großes Geheimnis, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene. Im Gegensatz zu
manchen anderen Personen
.» Er sah mich an, als meinte er damit mich. «Ich arbeite bei Glasgow Wire. Wir stellen Viehzäune und andere Drahtprodukte für die Rancher her. Wir beliefern ganz Argentinien.»
    Ich versuchte ein Gähnen zu unterdrücken, ohne Erfolg. Er hatte recht – er hatte es mir schon einmal erzählt. Ich hatte lediglich keinen Grund gesehen, es mir zu merken.
    «Es klingt langweilig, ich weiß», sagte er ironisch. «Aber ohne galvanisierte Drahtprodukte gäbe es kein argentinisches Rindfleisch. Ich verkaufe Paletten mit Fünfzig-Meter-Rollen. Die argentinischen Viehzüchter kaufen Kilometer von diesem Zeug. Sie können gar nicht genug kriegen davon. Und sie sind nicht allein. Draht ist für alle möglichen Leute wichtig, ob Sie’s glauben oder nicht.»
    «Tatsächlich?» Ich musste erneut gähnen. Diesmal bemühte ich mich gar nicht erst, es zu

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