Das letzte Experiment
sie normalerweise gar nicht zu Gesicht bekommt.»
«Das also machen Sie hier.» Er stieß sein hysterisches Lachen aus, das jetzt ziemlich nervös klang. «Ich hatte mich schon die ganze Zeit gefragt …»
«Schön. Nachdem also nun Ihre Neugier zufriedengestellt ist, gehen wir. Und versuchen Sie sich zu merken, was ich über den Humor der Deutschen gesagt habe.»
Im Figuera-Buchladen an der Ecke Florida und Alsina kaufte ich für hundert Peso eine Karte von Argentinien, ich fasste Melville am Oberarm, und wir gingen zur Plaza Mayo, wo ich unter den tausend Augen der Casa Rosada die Karte auf dem Rasen ausbreitete.
«Na, dann zeigen Sie mal», sagte ich. «Wo genau war die Stelle? Und wenn ich herausfinde, dass Sie mich belogen haben, komme ich zurück zu Ihnen wie Banquo in diesem Stück über euch, Schotte. Und dann sind Ihre Haare noch ein ganzes Stück roter als jetzt bereits.»
Der kleine Schotte schob den Finger auf der Karte von Buenos Aires aus in nördliche Richtung, vorbei an Cordóba und Santiago del Estero zu einer Stelle westlich von La Cocha, wo Eichmann untergetaucht war.
«Ungefähr hier», sagte er. «Es ist nicht in der Karte verzeichnet, aber das ist die Stelle, wo ich Kammler getroffen habe. Genau nördlich von Andalgala gibt es Lagunen in einer Senke nahe des Bassins des Dulce. Sie waren gerade dabei, eine Schmalspurbahn zu verlegen,als ich zum ersten Mal dort war. Wahrscheinlich, um das Material leichter von dort aus an den Bestimmungsort zu schaffen.»
«Ja. Wahrscheinlich», sagte ich, faltete die Karte zusammen und steckte sie ein. «Wenn Sie meinen Rat annehmen möchten – reden Sie mit niemandem über unser Gespräch. Man würde Sie wahrscheinlich umbringen, noch bevor man mich umgebracht hat, allerdings erst, nachdem man Sie gefoltert hat. Zu Ihrem Glück wurde ich bereits gefoltert, und es hat nicht funktioniert, deswegen haben Sie einen leichten Vorteil. Das Beste, was Sie jetzt tun können, ist weggehen und vergessen, dass Sie mir je begegnet sind. Nicht mal als Schachspielpartner.»
«Nichts dagegen», sagte Melville, erhob sich und eilte davon.
Ich warf einen zweiten, gründlichen Blick auf die Karte und sagte mir, dass Colonel Montalban enttäuscht gewesen wäre über mein Verhalten. Ich war kein besonderer Detektiv. Wer hätte je für möglich gehalten, dass Melville, der große Langweiler in der Bar des Richmond, der Schlüssel zu dem gesamten Fall sein könnte? Ich fand es amüsant, dass ich nur durch Zufall letztlich den entscheidenden Hinweis bekommen hatte. Doch in einer Sache irrte sich Melville. Direktive zwölf hatte nichts mit einer geheimen nuklearen Anlage zu tun. Stattdessen aber hatte Direktive zwölf etwas mit der leeren Akte des Außenministeriums zu tun, die Anna und ich im alten Hotel de Inmigrantes gefunden hatten. Dessen war ich mir vollkommen sicher.
ZWANZIG
BUENOS AIRES
1950
Ich rief Anna an und verabredete mich mit ihr um zwei Uhr im Shorthorn Grill auf der Corrientes zum Essen. Anschließend fuhr ich zu dem Haus in Arenales, wo von Bader und der Colonel mich erwarteten. Nach allem, was Isabel Pekerman mir im Club Seguro erzählt hatte, wusste ich, dass ich wahrscheinlich meine Zeit verschwendete, doch ich wollte sehen, wie sich die beiden ohne sie verhielten und wie ihre Geschichte klang, jetzt, nachdem ich einiges herausgefunden hatte. Nicht, dass ich irgendetwas mit Sicherheit wusste. Das wäre zu viel des Guten gewesen. Ich nahm an, dass von Bader plante, in die Schweiz zu fliehen, und dass Evita ihn nicht gehen lassen wollte, bevor nicht die echte Baronin ihre Tochter Fabienne herausrückte.
Es gab sicher verschiedene Gründe, warum sich die Baronin mit Evitas Tochter in Sicherheit gebracht hatte – vorausgesetzt, Fabienne war tatsächlich Evitas Tochter. Irgendetwas hatte das mit den Züricher Konten der Reichsbank zu tun, doch ich konnte den Zusammenhang nicht erkennen. Unter dem Strich bedeutete das Ganze jedenfalls, dass Colonel Montalban mich ganz schön an der Nase herumgeführt hatte. Ich wusste, warum er diesen zwanzig Jahre alten Mordfall wieder herausgekramt hatte. Er hatte es ja selbst unumwunden zugegeben. Doch nur aus einem einzigen Grund hatte er mir verschwiegen, dass Fabienne sich zusammen mit ihrer Mutter versteckt hatte: Er wusste mit Sicherheit, dass die beiden sich bei einem der alten Kameraden aufhielten. Wie dem auch sein mochte, er hatte ganz bestimmt auch einen Grund, die Scharade mit IsabelPekerman zu arrangieren.
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