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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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sagte ich.
    «Fundamente? Nein, das glaube ich nicht.»
    «Doch», sagte ich. «Ich glaube, sie wollten noch mehr von diesen Baracken bauen und haben es sich dann anders überlegt.»
    Meine Lüge klang erbärmlich. Ich wusste ganz genau, was ich vor mir hatte. Und Anna wusste es inzwischen auch.
    Langsam beugte sie sich vor, um etwas in Augenschein zu nehmen, das sie offenbar auf dem grasbewachsenen Hügel entdeckt hatte. Sie ging in die Hocke. Dann war sie auf den Knien, blickte sich suchend um, nahm ein Stück Holz und scharrte damit rings um eine beinahe farblose Pflanze die Erde beiseite.
    «Was denn?», fragte ich und näherte mich. «Hast du etwas gefunden?»
    Sie setzte sich auf die Hacken, und ich sah, dass das keine Pflanze war, ganz und gar nicht. Sondern eine Kinderhand – halb verwest, halb skelettiert. Anna schüttelte den Kopf, flüsterte etwas, das ich nicht verstand, dann schlug sie die Hand vor den Mund. Sie bekreuzigte sich.
    Ich schwieg. Es gab nichts, was ich hätte sagen können. Der Zweck dieses Lagers war uns beiden inzwischen klargeworden.
Diese Hügel waren Massengräber.
    «Wie viele, was meinst du?», fragte sie nach einer ganzen Weile. «In jedem?»
    Ich sah sie nervös an. Ich blickte mich um, ob uns nicht schon jemand entdeckt hatte. Ich hatte nicht vermutet, auf ein Todeslager zu stoßen. «Ich weiß nicht. Tausend vielleicht? Hör mal, wir sollten wirklich von hier verschwinden. Auf der Stelle.»
    «Ja, du hast recht.» Sie zückte ein Taschentuch und wischte sich die Augen. «Lass mir nur eine Minute, ja? Meine Tante und mein Onkel liegen unter einem von diesen Hügeln.»
    «Das weißt du nicht mit Sicherheit.»
    «Hast du denn eine bessere Erklärung für ihr Verschwinden?»
    «Hör mal», sagte ich. «Die Menschen, die hier beerdigt liegen   … du weißt nicht, ob es Juden waren. Es könnten Argentinier sein. Politische Gegner der Peróns. Es gibt keinen Grund zu der Annahme   …»
    «Das waren Gaskammern da hinten!», unterbrach sie mich und deutete auf die unterirdische Baracke, aus der wir eben gekommen waren. «Oder vielleicht nicht? Komm schon, Gunther! Du warstbei der SS. Gerade du solltest doch wissen, wie eine Gaskammer aussieht.»
    Ich schwieg.
    «Außerdem habe ich noch nie gehört, dass Peróns politische Gegner vergast werden», sagte sie. «Erschossen, ja. Aus dem Flugzeug geworfen, ja. All das, aber nicht vergast. Nur Juden werden vergast. Dieses Lager   … es ist ein Vernichtungslager. Deshalb haben sie meinen Onkel und meine Tante hergebracht. Um sie zu vergasen. Ich weiß es.»
    «Wir müssen weg von hier», sagte ich.
    «Was?»
    «Auf der Stelle. Wenn sie uns hier finden, bringen sie uns mit Sicherheit um.» Ich hob sie hoch. «Ich hatte so etwas nicht erwartet, Engel. Ehrlich nicht. Ich hätte dich niemals mit hierher genommen, wenn ich auch nur den Verdacht gehabt hätte, dass es sich um so ein Lager handelt. Ich dachte mir, dass es vielleicht ein Arbeitslager sein könnte. Aber ein Vernichtungslager? Niemals. Nicht das. Das hätte ich mir in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können.»
    Ich nahm sie am Arm und ging mit ihr zum Zaun zurück.
    «Mein Gott!», sagte sie. «Kein Wunder, dass es ein so großes Geheimnis ist. Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn die Menschen außerhalb von Argentinien je herausfinden, was das hier war?»
    «Anna, hör zu! Du musst mir versprechen, dass du niemals darüber reden wirst! Zumindest so lange nicht, wie du noch in diesem Land bist. Sie würden uns beide umbringen, ohne jeden Zweifel. Je schneller wir von hier weg sind, desto besser.»
    Sobald wir unter den Bäumen waren, fing ich an zu rennen. Sie folgte mir. Wenigstens hatte sie den Ernst unserer Lage begriffen. Ich warf den Drahtschneider weg. Wir standen endlich vor dem Loch, das ich in den äußeren Zaun geschnitten hatte. Wir schlüpften hindurch und rannten weiter in Richtung Jeep.
    Da konnte ich sie plötzlich riechen. Oder genauer gesagt, ich roch den Rauch ihrer Zigaretten. Ich hielt inne und drehte mich zu Anna um.
    «Hör zu», sagte ich und packte sie bei den Schultern. «Mach ganz genau das, was ich dir sage. Jemand ist hier. Jemand sucht nach uns.»
    «Woher willst du das wissen?»
    «Weil ich ihren Tabakrauch rieche.»
    Anna sog die Luft ein und biss sich auf die Unterlippe.
    «Zieh dich aus.»
    «Was redest du da? Bist du verrückt?»
    «Vielleicht finden sie das Loch nicht, das wir in den Zaun geschnitten haben.» Ich war

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