Das letzte Experiment
Stühle, ein altes Radio, ein Bild von Juan Perón an der Wand, einen weiteren Raum dahinter mit einem Dutzend Betten, auf denen zusammengerollte Matratzen lagen. In einer kantinengroßen Küche hingen Töpfe und Pfannen sauber und ordentlich an einem Gestell. Die Tür war nicht abgeschlossen.
Im Haus roch die Luft modrig und feucht. Auf dem Tisch lag eine alte Ausgabe der
La Prensa
. Die Titelseite zeigte Perón in einer Militäruniform mit Offiziersmütze und weißen Handschuhen, einer Schärpe in den argentinischen Nationalfarben und einem breiten Grinsen im Gesicht. Es ging darum, dass Perón seinen ersten Fünfjahresplan verkündete, um die eben verstaatlichten Industrien des Landes zu stärken. Ich zeigte Anna den Bericht.
«1947», sagte ich. «Ich vermute, das war das letzte Mal, dass jemand hier war.»
«Das hoffe ich jedenfalls», sagte Anna.
Ich ging in den nächsten Raum und hob einen alten Helm auf. Die übrigen Räume gaben genauso wenig Aufschluss darüber, was in diesem Lager vor sich gegangen war.
«Hier scheinen die Soldaten ihre Freizeit verbracht zu haben», sagte ich.
Wir verließen das Gebäude und gingen über den Platz zu den anderen Baracken. Wir betraten die erste. Es sah aus wie in einem Stall, nur dass sich in dem Raum keine Boxen befanden, sondern überall breite Holzregale standen. Auf einigen der Regalböden lag Stroh. Es dauerte fast eine Minute, bis mir klar wurde, dass dies keine Regale, sondern Pritschen waren. Darauf hatten Menschen geschlafen.
Annas gequälter Blick verriet mir, dass sie zum gleichen Schluss gekommen war. Wir schwiegen. Sie stand dicht bei mir, und schließlich ergriff sie meine linke Hand. In der rechten hielt ich immer noch die Pistole. Wir gingen zur zweiten Baracke, die innen genauso aussah wie die erste. Oder wie die dritte. Ich dachte an das Kriegsgefangenenlager, in dem die Russen mich gehalten hatten. Das Wetter war hier besser, aber das Lager war genauso menschenverachtend.
Die vierte und letzte Baracke war ein langer, leerer Schuppen. Am hinteren Ende befand sich eine Art Graben, der mit Stacheldraht umzäunt war. Der Graben war vielleicht dreißig Meter lang und zwei Meter breit. Wir stiegen hinunter, und von hier aus entdeckten wir den Keller. Er war in drei Kammern unterteilt. Jede war ungefähr drei Meter hoch und zehn Meter breit, und die Wände waren mit Zinkblech ausgekleidet. An der Decke hingen Duschköpfe und Rohre. Die Tür jeder Kammer war dick und konnte offenbar von außen mit einem großen Hebelschloss verschlossen werden. Die Türen waren außerdem mit Gummidichtungen versehen. Ein Kupferrohr führte wenige Zentimeter über dem gefliesten Boden in jede der drei Kammern. Die Rohre verliefen durch den Gang zu einem großen Ofen, der sich zwischen den Kammern befand. Inzwischen hatte ich eine schreckliche Ahnung, welchen Zweck dieses Lager erfüllt hatte.
Anna sah hinauf zu den Rohren an der Decke. «Woher kam dasWasser?», fragte sie und blickte sich suchend um. «Ich habe keinen Tank auf dem Dach gesehen.»
«Wahrscheinlich haben sie ihn abmontiert», sagte ich.
«Warum? Sie haben doch sonst alles stehen und liegen lassen.» Ihr Blick ging zum Boden. «Und was ist das? Schienen? Wozu?» Sie folgte dem Verlauf der Schienen zum anderen Ende der Baracke, wo neben einer breiten Doppeltür ein starker Abluftventilator in die Wand eingelassen war. Sie stieß die Türen auf und ging nach draußen.
«Vielleicht sollten wir jetzt besser von hier verschwinden!», rief ich ihr hinterher. Ich schob meine Smith & Wesson zurück in das Halfter und versuchte Annas Hand zu fassen, doch sie wich geschickt aus und marschierte weiter.
«Nicht, bevor ich nicht weiß, was das für ein Lager war!», sagte sie.
Ich bemühte mich, ruhig und vernünftig zu klingen. «Komm schon, Anna. Lass uns verschwinden.» Ich fragte mich, wie viel sie wusste über das, was in den Vernichtungslagern in Polen vor sich gegangen war. «Wir haben genug gesehen, meinst du nicht? Sie sind nicht hier. Vielleicht waren sie nie hier.»
Die Schienen führten zu fünf grasbewachsenen Hügeln von vielleicht sechs Meter Breite und zwölf Meter Länge. Direkt daneben stand eine Reihe schwerer Flachbett-Loren, wie man sie auf Rangierbahnhöfen verwendet. Die Loren waren verrostet, doch die Konstruktion war deutlich zu erkennen: Die Pritsche konnte gekippt werden, um die Fracht zu entladen. Ich fürchtete, dass ich wusste, was sich unter diesen Hügeln verbarg.
«Fundamente»,
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