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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Gelegenheit ausgerüstet. Ich fand einen handgroßen, stabilen Drahtschneider. Wir waren zurück im Geschäft.
    «Jetzt gehen wir spazieren», sagte ich.
    Wir gingen unter den Bäumen hindurch und am Zaun entlang. Niemand war zu sehen. Selbst die Vögel schwiegen. Trotzdem war es meiner Meinung nach besser, den Draht erst dreißig oder vierzig Meter vom Jeep entfernt zu durchschneiden, für den Fall, dass jemand vorbeikam und den Wagen sah. Als wir weit genug waren, machte ich mich mit dem Drahtschneider daran, uns einen Eingang zu schaffen.
    «Wir gehen rein und sehen uns ein wenig um», sagte ich.
    «Meinst du nicht, wir sollten warten, bis es dunkel ist, und dann noch einmal wiederkommen? Damit uns niemand sieht?»
    «Tritt mal einen Schritt zurück.» Ich durchtrennte einen von Melvilles Drähten, und er schnalzte wie eine gerissene Klaviersaite in die Bäume.
    Anna sah sich nervös um.
    «Du bist wirklich ziemlich hartnäckig, wie?», sagte sie.
    Ich steckte den Drahtschneider ein. Irgendein Viech stach mich, und ich schlug mir gegen den Hals. «Hartnäckig?» Ich grinste. «Musst du gerade sagen.»
    «Jetzt ist mir jedenfalls nicht mehr sehr hartnäckig zumute», sagte sie. «Ich habe nicht vergessen, was bei unserem letzten Einbruch passiert ist.»
    «Gutes Argument.» Ich zog meine Pistole, nahm das Magazin heraus und überprüfte, ob sie einsatzbereit war, dann legte ich den Sicherungshebel um. Erst dann zwängte ich mich durch das Loch, das ich in den Zaun geschnitten hatte.
    Zögernd folgte Anna meinem Beispiel. «Ich denke, Menschen zu töten wird mit jedem Mal einfacher. Das sagt man wenigstens. Stimmt es?»
    «
Man
weiß offensichtlich nicht, wovon
man
redet», entgegnete ich, während ich mir vorsichtig einen Weg zwischen den Bäumenhindurch bahnte. «Als ich das erste Mal einen Mann tötete, war das in den Schützengräben. Und da hieß es: er oder ich. Ich kann nicht sagen, dass ich jemals einen Mann getötet habe, der es nicht verdient hätte.»
    «Was ist mit deinem Gewissen?»
    Ich legte die Pistole auf die flache Hand und hielt sie ihr hin. «Möchtest du vielleicht, dass ich sie wegstecke?»
    «Nein, nein!», sagte sie hastig.
    «Dann ist es also in Ordnung, wenn ich jemanden töte – solange dein Gewissen nicht damit belastet wird, richtig?»
    «Wenn ich so hart wäre wie du, könnte ich es vielleicht auch. Jemanden erschießen, meine ich. Aber ich bin nicht so hart.»
    «Der letzte Krieg, Engel, hat gezeigt, dass jeder Mensch imstande ist, einen anderen zu töten. Du brauchst dazu nichts weiter als einen Grund. Und eine Kanone.»
    «Das glaube ich nicht!»
    «Es gibt keine Mörder», sagte ich. «Es sind Klempner und Verkäufer und Händler und Anwälte, die andere Menschen umbringen. Jeder ist halbwegs normal, bis er den Abzug durchdrückt. Mehr brauchst du nicht, um einen Krieg zu führen. Gewöhnliche Leute, die andere gewöhnliche Leute umbringen. Nichts ist einfacher auf der Welt.»
    «Und deswegen ist es in Ordnung?»
    «Nein. Aber es ist so.»
    Sie erwiderte nichts darauf, und wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, als dürften wir die unnatürliche Stille des Waldes nicht stören. Nur eine schwache Brise war in den Baumwipfeln zu hören und das Knacken der Zweige unter unseren Füßen. Schließlich kamen wir an einen zweiten Zaun. Er war ungefähr zweihundert Meter lang, und dahinter standen Bretterverschläge. Wir sahen auch Wachtürme, doch sie waren zu unserem Glück nicht besetzt. Das Lager – wenn es ein Lager war – sah verlassen aus. Ich zückte den Drahtschneider.
    «Melville nannte diesen Ort
Dulce
», sagte ich, während ich den ersten Draht durchtrennte. Dann den nächsten.
    «
Süß
. Ein schlechter Witz», sagte Anna. «Ich finde es nicht gerade lieblich hier.»
    «Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass sie hier die illegalen jüdischen Einwanderer wie deinen Onkel und deine Tante und Isabel Pekermans Schwestern festgehalten haben.»
    Wir zwängten uns durch das Loch.
    Ich zählte insgesamt fünf Wachtürme: einen in jeder Ecke des Lagers und einen fünften mitten auf dem Gelände, in einer Art Graben, der sich zwischen zwei Baracken durchzog. Neben dem Tor befand sich ein kleines Wachhaus. Vom Tor führte ein Weg auf einen weiten Platz, wo ein nackter Fahnenmast stand. Ganz in der Nähe der Stelle, wo wir in das Lager eingedrungen waren, war ein großes Ranchhaus zu sehen. Durch die staubigen Fenster erkannten wir das Mobiliar   – Tische,

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