Das letzte Experiment
sämtlicheBerufseinbrecher der Stadt, und es hieß, er müsse sich einen Tatort nur ansehen, um zu wissen, wer dahintersteckte.
«Genosse Klein», sagte ich. «Hast du ihn in letzter Zeit gesehen?»
«Klein? Er behauptet, neuerdings ein ehrliches Leben zu führen», sagte Braschwitz. «Hat eine Arbeit bei Heilbronner auf der Mohrenstraße gefunden.»
«Der Antiquitätenladen?»
«Ganz genau. Hatte immer einen Blick für dieses Zeug. Warum? Ist er wieder rückfällig geworden?»
«Nein. Aber er kennt jemanden, den ich suche. Einen Freund dieser Witwe, mit der er zusammen war. Eva Zimmer.» Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, doch ich wollte nicht, dass Braschwitz zu viele Fragen stellte.
«Die arme Eva», sagte er. «Sie war eine gute Witwe, keine Frage.»
«Witwe» bezeichnete in diesem Zusammenhang eine Person, über die ein Einbrecher seine gestohlenen Waren loswurde. Es waren natürlich keine echten Witwen, sie taten nur so. Einige von ihnen – wie Eva Zimmer – waren echte Schauspielerinnen. Sie zogen schwarze Kleidung an und versuchten mit Hilfe von tränenrührenden Geschichten bei den Goldschmieden an der Hauptstraße Gold, Silber und Juwelen zu verkaufen. Bevor ich Genosse Klein hochgenommen hatte, waren er und Eva Zimmer eines der erfolgreichsten Gaunerpärchen von ganz Berlin gewesen. Ich wusste, dass er seit sechs Monaten wieder aus dem Gefängnis in Tegel war, doch es ging nicht aus den Akten hervor, was er seitdem getrieben hatte.
Nachdem Braschwitz mir alles erzählt hatte, was er über Klein wusste, rief ich im Adlon an und fragte Frieda, was sie mir über Joseph Goebbels erzählen könne. Goebbels war Stammgast im Adlon, und Frieda gab mir ein paar Informationen, mit denen ich Klein hoffentlich würde ködern können.
In Heilbronners Antiquitätenladen teilte mir der Geschäftsführermit, dass Klein nicht da sein. «Er hat Mittagspause», sagte er. «Er ist wahrscheinlich auf der anderen Straßenseite bei Gsellius, dem Buchladen. Dort geht er mittags eigentlich immer hin.»
Ich überquerte die Straße und spähte durch das Schaufenster in den Laden. Klein war tatsächlich da. Ich entdeckte ihn augenblicklich. Er war älter geworden, aber ein Jahr im Knast ließ einen um fünf altern. Ich hatte nicht länger als ein paar Sekunden vor dem Schaufenster gestanden, als er auch schon von dem Buch in seinen Händen aufsah und meinem Blick begegnete. Ich bedeutete ihm mit einem Wink, nach draußen zu kommen, und er folgte zögernd meiner Aufforderung. Wir waren nicht gerade Freunde, doch er würde nicht vergessen haben, dass ich den Mann überführt hatte, der Eva Zimmer vor zwei Jahren niedergestochen hatte. Einen Mann namens Horst Wessel. Schade nur, dass Wessel, ein Student und S A-Mann , von einem anderen Freier namens Ali Höhler im Streit um eine Hure ermordet worden war, bevor ich ihn hatte verhaften können. Weil Höhler zufällig Kommunist war, war es Goebbels irgendwie gelungen, aus dieser Verkettung zweifelhafter Ereignisse ein politisches Melodram zu machen. So war Horst Wessel in einem Lied bereits ein Denkmal gesetzt worden. Man konnte es überall in Berlin dort hören, wo die SA auf einem ihrer Märsche durch eine kommunistische Wohngegend zog. Selbstverständlich hatte Goebbels bei seiner Version der Geschichte Wessels Unterweltverbindungen unter den Tisch fallen lassen. Unterdessen war Höhler von einem meiner Kollegen verhaftet worden, und das Gericht hatte ihn zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Klein war ziemlich wütend auf Goebbels, weil dieser den schäbigen Mord an Eva Zimmer in der
canta storia
des heroischen Nazis Horst Wessel vergessen hatte.
Wir gingen um die Ecke zu Siechens in der Friedrichstraße, wo ich uns zwei Nürnberger erstand, bevor ich Klein genauer in Augenschein nahm. Sein Gesicht war eingefallen und hager und so geformt, dass man ohne weiteres den Satz des Pythagoras daran hätte belegen können.
«Was kann ich für Sie tun, Herr Kommissar?», fragte er.
«Du musst mir einen Gefallen tun, Klein. Ich brauche jemanden, der in das Büro eines Arztes im Städtischen Krankenhaus Friedrichshain einsteigt. Jemanden, der intelligent ist, der lesen und schreiben kann und nicht gierig wird. Ich möchte nicht, dass irgendetwas geklaut wird.»
«Das ist gut, Herr Kommissar, weil ich mich nämlich zur Ruhe gesetzt hab. Ich stehle nicht mehr. Und ich breche auch nirgendwo mehr ein. Ich hab damit aufgehört, seit Eva erstochen wurde.»
«Hör zu, du
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