Das letzte Experiment
sollst nur eine Akte raussuchen und sie abschreiben. Eine Sekretärin mit einem Schlüssel könnte es tun, aber ich habe keinen Schlüssel. Für einen Mann mit deiner Erfahrung gibt es nichts Einfacheres auf der Welt.» Ich nippte an meinem Bier und ließ ihn zappeln, während der Schaum auf seinem unberührten Bier in sich zusammenfiel.
«Sie haben mir nicht zugehört, Herr Kommissar. Ich hab mich zurückgezogen. Das Gefängnis hat mir gereicht. Sie können sich einen Orden verleihen.»
«Einen Orden, wie? Ich kann dir keinen Orden verleihen, Klein, aber wenn du tust, was ich von dir verlange, wenn du ein paar Namen aus einer Akte im Städtischen Krankenhaus für mich abschreibst, dann kann ich dir vielleicht etwas anderes geben.»
«Ich will ihr Geld nicht, Polyp.»
«Ich würde dich nicht mit Geld beleidigen, Klein. Ich habe etwas viel besseres für dich. Du könntest dich um unsere Republik verdient machen – falls du ein Anhänger unserer Republik bist.»
«Bin ich rein zufällig nicht, Herr Kommissar. Die Republik hat mich ins Gefängnis gesperrt.»
«Meinetwegen, dann nenn es von mir aus Rache. Rache für Eva.» Ich trank einen weiteren Schluck von meinem Bier und ließ ihn warten.
«Reden Sie weiter, Herr Kommissar.»
«Wie würde es dir gefallen, Joseph Goebbels eins auszuwischen?»
«Ich bin ganz Ohr.»
«Er wohnt am Reichskanzlerplatz Nummer drei, Eckwohnung im Erdgeschoss, Ostseite. Ein paar S A-Leute sitzen vor dem Eingang und halten Wache, deswegen musst du vorsichtig sein. Aber sie können von dort aus das Badezimmerfenster, das zur Straße geht, nicht sehen. Der untere Riegel des Fensters ist gebrochen. Du kannst in null Komma nichts rein und wieder raus. Brot und Butter für einen Mann wie dich, Klein. Es ist noch keine anderthalb Stunden her, da war ich selbst drin. Der Mann ist ein Fanatiker, Klein. Er hat eine Fotografie von Hitler auf dem Scheißhaus hängen, soll man es glauben? Wie dem auch sei, die Wohnung gehört seiner Frau Magda. Sie war vorher mit einem reichen Industriellen verheiratet, Gunther Quandt, der sehr großzügig war bei der Scheidungsvereinbarung. Er hat ihr all ihre Klunkern gelassen. Du weißt schon, wie du sie gern hast. Die du ganz leicht bei Margraf verkaufen kannst. Wegen der bevorstehenden Wahl ist Goebbels viel unterwegs. Reden halten und so weiter. Ich weiß rein zufällig, dass er morgen Abend im Hauptquartier der NSDAP in der Hedemannstraße spricht. Es wird eine wichtige Rede. Sämtliche Reden von jetzt an bis Ende Juli sind wichtig, aber diese wird wahrscheinlich wichtiger als die meisten anderen. Hitler persönlich soll anwesend sein. Anschließend gibt Magda eine kleine Soiree im Hotel Adlon. Es wäre also genügend Zeit, sich gründlich in der Wohnung umzusehen.» Ich nahm einen weiteren Schluck von meinem Bier und überlegte, ob ich mir ein Würstchen bestellen sollte. Ich hatte einen arbeitsreichen Morgen hinter mir. «Und? Was sagst du? Einverstanden, Klein? Wirst du diese Namen für mich besorgen oder nicht?»
«Wie ich bereits sagte, Kommissar Gunther, ich versuche, ein rechtschaffenes Leben zu führen.» Klein grinste und reichte mir die Hand. «Aber wie das eben so ist mit den Nazis – sie bringen das Schlechteste in den Menschen zum Vorschein.»
Am nächsten Morgen lag eine handgeschriebene Liste mit Namen und Berliner Adressen vor mir. Nicht ganz so gut wie eine Liste mit dringend Tatverdächtigen, aber auch nicht schlecht. Jetzt musste ich nichts weiter tun, als einen nach dem anderen zu überprüfen.
Das Einwohnermeldeamt des Alex befand sich auf der dem Bahnhof zugewandten Seite, in Zimmer 359. Dort konnte jeder Einwohner der Stadt ganz legal die Adresse jedes anderen Einwohners von Berlin erhalten. Die preußische Verwaltung hatte es gut gemeint: Die Tatsache, dass Informationen über den Staat frei zugänglich waren, sollte das Vertrauen der Bürger in die zerbrechliche Demokratie stärken. In der Praxis bedeutete es jedoch lediglich, dass die SA und die Kommunisten einfach herausfanden, wo ihre Gegner wohnten, um ihnen das Leben zur Hölle zu machen. In einer Demokratie gibt es Nachteile, ohne Zweifel.
Bestimmte Informationen allerdings waren nur der Polizei zugänglich, zum Beispiel das sogenannte Teufelsverzeichnis – das so hieß, weil es rückwärts funktionierte. Man musste lediglich einen Straßennamen und eine Hausnummer nachschlagen, und das Teufelsverzeichnis nannte einem die Namen sämtlicher Personen, die unter
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