Das letzte Experiment
ersten Treffen erwähnt – es ist ziemlich schwierig, bei Testreihen wie diesen vollständige Aufzeichnungen über Patienten zu führen. Manchmal kann man niemandem völlig vertrauen außer sich selbst. Es tut mir leid, wenn ich dadurch in Ihren Augen zu einem Verdächtigen werde, Herr Kommissar, doch ich darf Ihnen versichern, dass ich noch nie einen Menschen umgebracht habe. Außerdem denke ich, dass ich ein Alibi für den Tag vorweisen kann, an dem das arme Mädchen ermordet wurde.»
«Es freut mich sehr, dies zu hören.»
«Ich war auf einem Urologen-Kongress in Hannover.»
Ich nickte und nahm meine Zigarette hervor. «Haben Sie etwas dagegen?»
Er schüttelte den Kopf und nippte an seinem Glas. Der Alkohol brachte seinen Magen zum Knurren.
«Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Dr. Kassner. Ich denke, ich weiß eine Möglichkeit, wie wir meine Ermittlungen weiterbringen, ohne dass Sie die ärztliche Schweigepflicht verletzen.»
«Wenn es in meiner Macht steht – jederzeit.»
Ich zündete meine Zigarette an und beugte mich vor, sodass ich den Aschenbecher bequem erreichen konnte.
«Sind Sie auch psychiatrisch ausgebildet, Herr Doktor?»
«Ein wenig. Tatsächlich habe ich in Wien studiert und dort einige Vorlesungen über Psychiatrie besucht. Eine Zeitlang hatte ich sogar überlegt, später auf dem Gebiet der Psychotherapie zu arbeiten.»
«Wenn Sie einverstanden sind, würde ich Sie bitten, sich noch einmal Ihre eigenen Notizen über Ihre Patienten anzusehen. Um herauszufinden, ob einer darunter ein Mörder sein könnte.»
«Und angenommen, ich finde einen? Einen Patienten, der sich verdächtig macht? Was dann?»
«Dann könnten wir erneut über die Angelegenheit sprechen. Und vielleicht einen für beide Seiten akzeptablen Weg finden, wie wir weiter vorgehen.»
«Also schön. Ich versichere Ihnen, dass ich nicht den geringsten Wunsch verspüre, diesen Mann erneut morden zu sehen. Ich habe selbst eine Tochter.»
Ich blickte mich suchend in seinem Wohnzimmer um.
«Nein. Sie lebt bei ihrer Mutter in Bayern. Wir sind geschieden.»
«Das tut mir leid.»
«Muss es nicht.»
«Und der Mann, der mir geöffnet hat, als ich heute Mittag geklingelt habe?»
«Ah, Sie meinen wahrscheinlich Beppo. Er ist ein Freund meiner geschiedenen Frau und war hier, um ein paar Dinge in seinem Wagen mitzunehmen. Er ist Student in München.» Kassner gähnte. «Es tut mir leid, Herr Kommissar, aber es war ein langer und anstrengender Tag. Falls Sie keine Fragen mehr haben? Ich würde gern ein Bad nehmen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich nach einem Tag in der Klinik auf mein Bad freue. Oder vielleicht doch?»
«Doch, Herr Doktor, ich kann es mir vorstellen. Sehr gut sogar.»
Wir verabschiedeten uns mehr oder weniger freundlich, doch ich fragte mich, wie freundlich Kassner noch gewesen wäre, hätte ich Goebbels erwähnt. Nichts in Kassners Wohnung deutete darauf hin, dass er ein Nazi war. Auf der anderen Seite würde Goebbels sich doch wahrscheinlich nur von einem vertrauenswürdigen Mitglied der Nazi-Partei behandeln lassen. Joseph Goebbels war nichtder Mann, der sich auf Dinge wie Ethik und berufliche Schweigepflicht verließ.
Leider gab es ansonsten keine Hinweise darauf, dass der Gauleiter von Berlin-Brandenburg ein psychopathischer Mörder war. Eine Schanker-Infektion war eine Sache. Der grausame Mord an einem fünfzehnjährigen Mädchen eine ganz andere.
NEUN
BUENOS AIRES
1950
Ich verzichtete darauf, die alte Kripo-Akte aufzuschlagen, die Colonel Montalban irgendwie aus Berlin organisiert hatte. Das verschwieg ich dem Colonel, aber ich erinnerte mich an die Einzelheiten des Falles. Ich wusste beispielsweise sehr genau, warum ich den Mörder von Anita Schwarz nicht hatte dingfest machen können. Trotzdem machte ich mich an die Arbeit.
Ich suchte nach einem verschwundenen Mädchen, das möglicherweise bereits tot war. Und ich suchte nach einem meiner alten Kameraden, der möglicherweise ein Psychopath war.
Meiner Ansicht nach schien keine der Fragen, die der heldenanbetende argentinische Polizeibeamte gestellt hatte, geeignet, Antworten zu liefern. Doch das behielt ich fürs Erste für mich – welche andere Wahl blieb mir schon?
Anfangs machte mich der Gedanke nervös, die Rolle zu spielen, die der Colonel mir zugedacht hatte. Zum einen wollte ich so wenig mit anderen ehemaligen S S-Leuten zu tun haben wie nur irgend möglich. Zum anderen war ich überzeugt, dass sie – trotz
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