Das letzte Experiment
Montalbans Beteuerungen – nicht gerade erfreut sein würden, wenn jemand sie auf ihre Vergangenheit ansprach, die sie eigentlich am liebsten vergessen wollten. Doch wie sich herausstellte, hatte der Colonel im Großen und Ganzen recht: Sobald ich das Wort «Reisepass» erwähnte, gab es scheinbar nichts, über das Europas meistgesuchte Kriegsverbrecher nicht mit mir zu reden bereit gewesen wären. Tatsächlich schien es sogar so zu sein, dass viele dieser Kreaturen die Gelegenheit willkommen hießen, sich die Dinge von derSeele zu reden – ihre Verbrechen zu beichten oder sie gar zu rechtfertigen, als wäre ich ein Priester oder ein Psychiater.
Zu Anfang besuchte ich sie in ihren Büros. Die meisten Nazis in Buenos Aires hatten gute und gutbezahlte Anstellungen. Sie arbeiteten für eine Vielzahl unterschiedlicher Firmen wie die Compañía Argentina para Proyectos y Realizaciones Industriales, kurz CAPRI, für die Banco Fuldner, Vianord Travel, die örtliche Mercedes-Benz-Niederlassung, die Osram-Werke, Caffetti, Orbis Gas, Wander und Sedalana Textilien. Einige hatten bescheidenere Arbeitsplätze, beispielsweise im Buchladen des Dürer-Hauses in der Stadtmitte oder im Restaurant Adam oder im ABC Café. Andere arbeiteten für die Geheimpolizei, was mir das – für den Augenblick zumindest – größte Rätsel aufgab.
Auf der Arbeit ist man häufig ein anderer Mensch als zu Hause. Es war wichtig, dass ich diese Männer in entspannten Momenten antraf, unvorbereitet. Nach einer kurzen Weile machte ich mir zur Angewohnheit, in echter Gestapo-Manier vor ihren Wohnungen oder Häusern aufzutauchen, was so viel heißt wie mitten in der Nacht oder am frühen Morgen. Ich hielt Augen und Ohren offen und behielt meine wahre Meinung über diese Männer sorgfältig für mich. Es wäre kaum sinnvoll gewesen, über irgendeinen von ihnen meine aufrichtige Meinung kundzutun, obwohl es Augenblicke gab, wo ich am liebsten die mir von Colonel Montalban zur Verfügung gestellte Smith & Wesson gezogen und einem «alten Kameraden» eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte. Häufiger jedoch verließ ich ihre Wohnungen und fragte mich, in welchem Land ich gelandet war, das diesen Bestien Zuflucht gewährte. Welches Land sie hervorgebracht hatte, wusste ich schließlich bereits nur zu gut.
Einige schienen glücklich – oder wenigstens zufrieden – mit ihrem neuen Leben. Einige hatten attraktive neue Frauen oder Freundinnen oder manchmal beides. Der eine oder andere war reich. Nur wenige waren erfüllt von stillem Bedauern. Die meisten waren und blieben hartherzige, reuelose Täter.
Dr. Carl Vaernet zum Beispiel bedauerte lediglich, dass er seine Experimente an homosexuellen Gefangenen im Konzentrationslager Buchenwald nicht länger ungehindert hatte durchführen können. Er sagte dies ganz unverblümt; es sei die «bedeutsamste Arbeit» seines Lebens gewesen. Vaernet stammte ursprünglich aus Dänemark und lebte heute mit seiner Frau und seiner Familie in der Uriarte Nummer 2251, ganz in der Nähe der Plaza Italia im Distrikt Palermo in Buenos Aires. Er hatte einen dunklen Teint, war untersetzt, mit tiefliegenden Augen, einem pessimistischen Mund und schlechtem Atem und betrieb eine endokrinologische Klinik, die den bessergestellten Eltern argentinischer Homosexueller kostspielige «Heilungen» versprach. Argentinien war ein extrem machistisches Land, und
joto
oder
pajaro
zu sein wurde als eine Gefahr für die nationale Gesundheit betrachtet.
«Wenn Ihr Rot-Kreuz-Ausweis abläuft», sagte ich zu Vaernet, «das heißt, falls er nicht bereits abgelaufen ist, müssen Sie bei der zuständigen Polizei um ein spezielles Führungszeugnis nachsuchen. Um dieses Zeugnis zu erhalten, müssen Sie nachweisen, dass Sie sich während der Jahre Ihres Aufenthalts in Argentinien nichts zuschulden haben kommen lassen. Freunde – falls Sie Freunde haben – müssen diese Aussage bezeugen und sich für Ihren Charakter und Ihre Integrität verbürgen. Falls Sie den Nachweis erbringen, woran ich keinerlei Zweifel hege, werde ich Ihnen dieses Führungszeugnis höchstpersönlich ausstellen, mit dem Sie dann bei einem argentinischen Gericht einen argentinischen Pass beantragen können. Selbstverständlich kann dieser Pass auf einen anderen Namen ausgestellt sein. Das Wichtigste daran ist jedoch, dass Sie damit frei in Europa umherreisen können wie ein ganz normaler argentinischer Staatsbürger, ohne befürchten zu müssen, dass man Sie
Weitere Kostenlose Bücher