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Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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einen auf charmant machen kann. Ich kann es auch. Zumindest wenn der Anlass es die Mühe einigermaßen wert erscheinen lässt.»
     
    Ich rief in der Urologischen Klinik an, um mir sagen zu lassen, wann für allgemeinen Besuch geschlossen wurde. Fünf Uhr abends, erhielt ich zur Antwort. Um halb fünf machte ich mir eine Thermoskanne und fuhr zurück zu Kassners Wohnung am Dönhoffplatz. Dort angekommen, stellte ich den Motor ab, schenkte mir Kaffee ein und fing an, in den Zeitungen zu lesen, die ich mir am Reichskanzlerplatz gekauft hatte. Sie waren einen Tag alt, doch das machte nichts. Die Nachrichten in Berlin waren ja doch immer die gleichen. Deutscher Kanzler gewählt – deutscher Kanzler gestürzt. Und ständig stieg die Zahl der Arbeitslosen. In der Zwischenzeit raste Hitler in seinem dicken Mercedes-Benz durch das Land und erzählte den Menschen, dass er die Lösung für jedermanns Probleme war. Ich konnte es denen nicht verdenken, die ihm glaubten. Nicht wirklich. Die meisten waren dankbar für die Hoffnung. Sie wollten Arbeit. Eine Bank, die nicht pleite ging. Eine Regierung, die regierte. Gute Schulen und Straßen, auf denen man sich unbehelligtbewegen konnte. Gute Krankenhäuser. Und wenigstens ein paar ehrliche Polizisten.
    Gegen halb sechs erschien Dr.   Kassner in einem neuen schwarzen Horch. Ich stieg aus und folgte ihm die Stufen zu seiner Haustür hinauf. Er drehte sich um, und als er mich erkannte, verzog er den Mund zu einem Lächeln – das allerdings sogleich wieder verschwand, als er meinen billigen Straßenanzug sah und die Kripo-Marke in meiner Hand.
    «Kommissar Gunther», stellte ich mich vor. «Vom Alex.»
    «Soso. Dann sind Sie also nicht Dr.   Duisberg von der   I.G.   Farben.»
    «Nein, Herr Dr.   Kassner. Ich bin Ermittler und untersuche den Mord an Anita Schwarz.»
    «Ich dachte mir schon, dass Sie ziemlich jung aussehen für ein Vorstandsmitglied einer so großen und bedeutenden Firma. Nun ja, dann kommen Sie mal besser rein.»
    Wir stiegen hinauf zu seiner Wohnung. Sie war modern eingerichtet. Eine Menge helles Walnuss-Wurzelholz, cremefarbenes Leder und Bronzen von nackten Damen auf Zehenspitzen. Kassner öffnete einen Cocktailschrank von der Größe eines Sarkophags und schenkte sich etwas zu trinken ein, ohne mir etwas anzubieten. Wir wussten beide, dass ich nichts verdient hatte. Er setzte sich und stellte sein Glas auf einen gerundeten Untersetzer aus Holz auf einem Wohnzimmertisch mit gerundeten Ecken. Er schlug die Beine übereinander und bedeutete mir mit einer wortlosen Geste, Platz zu nehmen.
    «Hübsche Wohnung», log ich. «Wohnen Sie allein?»
    «Ja. Was hat das nun alles zu bedeuten, Herr Kommissar?»
    «Vor mehreren Abenden wurde ein junges Mädchen in Friedrichshain ermordet aufgefunden.»
    «Ja, ich habe in der
Tempo
darüber gelesen. Furchtbare Geschichte. Aber ich verstehe nicht   …»
    «Ich habe eine von Ihren Prontosil-Pillen bei der Toten gefunden.»
    «Ah. Ich verstehe. Und Sie denken, dass einer meiner Patienten der Übeltäter ist.»
    «Ich muss dieser Möglichkeit nachgehen.»
    «Selbstverständlich könnte es sich um einen bloßen Zufall handeln», sagte Kassner. «Einer meiner Patienten könnte die Pille auf dem Heimweg von der Klinik verloren haben, Stunden bevor die Leiche gefunden wurde.»
    «Das glaube ich nicht. Die Pille hat noch nicht lange gelegen. Es hatte nachmittags geregnet. Die Pille, die wir fanden, war vollkommen unbeschädigt. Dann ist da noch die Tote selbst. Eine minderjährige Prostituierte.»
    «Gütiger Himmel, wie schockierend!»
    «Eine mögliche Theorie wäre, dass sich der Mörder bei einer Prostituierten mit einer Geschlechtskrankheit infiziert hat.»
    «Womit er ein Motiv hätte, eine Prostituierte zu ermorden. Ist es das?»
    «Ich muss dieser Möglichkeit nachgehen.»
    Kassner nahm einen Schluck aus seinem Glas und nickte nachdenklich.
    «Warum dann diese alberne Verkleidung in der Klinik?», fragte er schließlich.
    «Ich wollte eine Liste der Patienten sehen, die Sie behandeln.»
    «Hätten Sie nicht offiziell danach fragen können?»
    «Hätte ich. Aber dann hätten Sie mir die Liste nicht gezeigt.»
    «Das ist vollkommen richtig. Ich hätte sie Ihnen nicht gezeigt. Ich hätte es nicht gedurft. Es wäre unethisch gewesen.» Er lächelte. «Also, was sind Sie? Ein Gedächtniskünstler? Hatten Sie vielleicht gehofft, sich jeden Namen auf der Liste einzuprägen?»
    «Etwas in der Art.» Ich zuckte die

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