Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Experiment

Das letzte Experiment

Titel: Das letzte Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
Vom Netzwerk:
wohnen.»
    «Das ist völlig unmöglich», sagte ich. «Ich kann nicht im Haus eines Juden wohnen   …» Ich zögerte – lange genug   –, bis sich der Ausdruck in Herzefeldes attraktivem Gesicht änderte. «Es sei denn, er hat zuerst in meinem Haus gewohnt.» Ich grinste. «Kommen Sie. Gehen wir ihr Gepäck abholen. Sie schlafen heute Nacht bei mir.»

ELF
BUENOS AIRES
1950
    Es war Essenszeit und das Café im Hotel Richmond voll besetzt mit hungrigen
porteños
. Ich ging hinunter ins Kellergeschoss, suchte mir einen freien Tisch und stellte ein Schachbrett auf. Ich hatte nicht vor, mit irgendjemandem zu spielen außer mit mir selbst. So war, schätzte ich, meine Chance zu gewinnen größer. Außerdem musste ich den Kopf für eine Weile freibekommen von alten Nazis und ihren Kriegsverbrechen.
    Ich versuchte, sie nicht anzustarren, doch es war nahezu unmöglich. Sie war eine atemberaubende Schönheit. Mein Blick folgte ihr durch den Raum, wie eine Kuh hinter der Milchmagd hertrottet. Hauptsächlich jedoch fiel es mir deshalb schwer, sie nicht anzustarren, weil sie
mich
anstarrte. Ich bildete mir nicht ein, dass sie mich kennenlernen wollte – ich war alt genug, um ihr Vater zu sein. Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Sie war groß und schlank, und ihr schwarzes lockiges Haar fiel ihr in einem spektakulären Wasserfall über die Schultern. Ihre Augen hatten die Form und Farbe von schokoladenüberzogenen Mandeln. Sie trug eine maßgeschneiderte Tweedjacke, die in der Taille eng geknöpft war, und einen dazu passenden langen Bleistiftrock, der mich wünschen ließ, ich hätte ein paar Blatt Papier. Ihre Figur war perfekt, wenn man auf Frauen steht, die gebaut sind wie teure Vollblüter. Ich stand zufällig auf genau solche Frauen.
    Sie kam auf mich zu, und ihre hohen Absätze hallten durch das stille Kellergeschoss wie der langsame Rhythmus einer großen Standuhr. Ich nahm einen Hauch von teurem Parfum wahr. Einesehr angenehme Abwechslung vom Geruch nach Kaffee und Zigaretten und meinem eigenen übellaunigen Selbst.
    Sobald sie mich ansprach, war klar, dass sie mich keineswegs mit jemand anderem verwechselte. Sie sprach Castellano, worüber ich erfreut war: Es bedeutete, dass ich sehr aufmerksam auf ihre Lippen achten musste und die Art und Weise, wie ihre kleine pinkfarbene Zunge über ihre alabasterweißen Zähne strich.
    «Bitte verzeihen Sie, Señor, wenn ich Sie bei Ihrem Spiel störe», sagte sie. «Aber sind Sie Carlos Hausner?»
    «Das bin ich.»
    «Dürfte ich mich für einen Moment zu Ihnen setzen?»
    Ich sah mich um. Drei Tische weiter spielte Melville, der kleine Schotte, mit einem Mann Schach, dessen ledriges braunes Gesicht auf den Rücken eines Pferdes gehörte. Zwei jüngere
porteños
mit Blockabsätzen und Gürteln mit dicken Silberschnallen spielten sehr lebhaft Billard. Sie legten so viel Vehemenz in ihre Stockstöße wie Furtwängler beim Dirigieren des Kaim-Orchesters. Alle hatten die Augen auf ihren jeweiligen Beschäftigungen, doch ihre Ohren und ihre Konzentration galten, wie es sich für die resolute maskuline Tradition der Argentinier gehörte, ganz allein uns.
    Ich schüttelte den Kopf. «Mein Gegner, der Unsichtbare Mann, reagiert ein wenig ärgerlich, wenn sich jemand ungefragt auf seinen Schoß setzt. Wir gehen besser nach oben.»
    Ich ließ sie vorausgehen. Es war erstens höflich, und zweitens hatte ich auf diese Weise Gelegenheit, ihre Strumpfnähte zu studieren. Sie waren kerzengerade, als hätte jemand einen Theodolit benutzt, um sie zu richten. Glücklicherweise waren ihre Beine kurvig wie die Mille Miglia und mit großer Wahrscheinlichkeit genauso schwierig zu bewältigen. Wir fanden einen ruhigen Tisch in der Nähe des Fensters. Ich winkte einen Kellner herbei. Sie bestellte sich einen Kaffee, und ich bestellte mir irgendetwas, ich achtete kaum darauf, so sehr faszinierte mich ihr Anblick. Wenn man mit der bestaussehenden Frau zusammensitzt, die einem seit Monatenbegegnet ist, hat man anderes zu tun, als irgendwelches Zeug zu trinken. Sie nahm eine von meinen Zigaretten und ließ sich von mir Feuer geben. Eine weitere Ausrede, um ihren großen, sinnlichen Mund genau zu betrachten. Manchmal denke ich, dass Männer aus genau diesem Grund das Rauchen erfunden haben.
    «Mein Name ist Anna», sagte sie. «Anna Yagubsky. Ich wohne zusammen mit meinen Eltern in Belgrano. Mein Vater war Musiker im Teatro Colón. Meine Mutter verkauft in einem Laden auf der Bartolomé Mitre

Weitere Kostenlose Bücher