Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
schmalen Schultern. »Keine Ahnung, mein Freund.«
Erst dann erzählte er von Anna und dem Einstich hinter ihrem Ohr.
Montag, 8. Dezember 2008
Als Anna mühsam die Stufen zu ihrer Wohnung hinaufstieg, hockte Kater Carlo vor ihrer Tür und maunzte mitleidheischend. Carlo war eigentlich das Haustier ihrer Nachbarin Jutta Schulenburg. Jutta war 64 Jahre alt, seit 35 Jahren glücklich verwitwet und gönnte sich nach Einbruch der Dunkelheit regelmäßig einen kräftigen Gin Tonic – oder auch zwei. Jetzt, kurz vor den längsten Nächten des Jahres, war sie schon am späten Nachmittag besäuselt und hörte ihren miauenden Mitbewohner vor der Haustür nicht. Anna mochte den dicken hochnäsigen Kerl und gewährte ihm gern Asyl in den ein, zwei Stunden, in denen sein Frauchen ihren Rausch ausschlief.
Sie kochte sich einen starken Kaffee und servierte Carlo ein paar Leckerlis, die sie stets für ihn parat hielt. Dann startete sie ihren Rechner, der dank Fatihs unermüdlichem Einsatz immer auf den neusten Stand hochgerüstet war. In nur wenigen Minuten hatte sie das Programm des Kongresses auf dem Schirm. Flink tippte sie den Namen »Bergman« in die Suchoption des PDF-Dokuments. Auf Seite 23 wurde sie fündig. »9. Dezember, 17.00 Uhr, großer Festsaal der Universität. Die European Association of Neuroscience verleiht ihren diesjährigen Ehrenpreis an Jonathan Bergman, vormals University of New York, für seine herausragenden Forschungen zum Thema neuronale Netzwerke, Gehirnreparationsforschung und Identität. Seine Studien zur Neurogenese im erwachsenen Zentralnervensystem haben das Verständnis der Hirnplastizität revolutioniert.«
In diesem Ton ging es weiter. »Bla, bla«, dachte Anna. Hochtrabende Worte. Sie googelte Jonathan Bergman und fand 3792 Einträge – aber nur ein einziges, verwaschenes Bild von ihm. Offenbar war der Mann trotz seiner wissenschaftlichen Prominenz fotoscheu. Das Bild zeigte ein der Mode nach zu schließen jahrzehntealtes Konterfei, das offenbar an Bord einer Jacht aufgenommen worden war. Neben ihm standen eine aparte Frau, ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen. Mit ein paar Klicks speicherte Anna es zunächst auf ihrer Festplatte und öffnete es dann im Photoshop. Dank der trickreichen Filterfunktionen wurde das Bild zwar etwas schärfer, aber nur unwesentlich deutlicher. Trotzdem bestätigte das Foto nur, was sie von der ersten Sekunde an gewusst hatte. Sein Lächeln war, wie in Annas Erinnerung, blendend weiß. Raubtierfletschen, dachte Anna. Teufelsfratze. Sie schauderte und schloss die Bilddatei. Die Türklingel zerriss die Stille. Kater Carlo stand auf und streckte sich.
»Jetzt kommen die Raunächte«, sagte Jutta dramatisch und wickelte sich fester in ihren mondänen Morgenmantel. »Dann kommen die Dämonen an die Oberfläche und spielen mit den Gebeinen der Toten.« Seit Jutta im Alter von zehn Jahren erfahren hatte, dass ihre Großmutter Zigeunerin gewesen war, wie man die Roma und Sinti damals noch nannte, hielt sie sich für medial begabt. Sie las Kaffeesatz, legte Tarot und freute sich, wenn ihre Prophezeiungen tatsächlich einmal eintrafen.
Anna war nie abergläubisch gewesen, auch wenn ihre bayrische Großmutter stets gerügt hatte: »Maderl – glauben musst was, und wennst nix glaubst, holt dich der Deifl zweimal.«
»Dieses Jahr beginnt die Raunacht früher«, sagte Anna finster. »Der schlimmste Teufel von allen, der ist jedenfalls schon da.«
Kapitel 5
Schlechte Nachrichten
Dienstag, 16. Dezember 2008
»Schlechte Nachrichten«, sagte Theo. »Die Gerichtsmedizin hat Ihre Mutter wieder abgeholt.«
Erik Florin schwieg fassungslos. »Großer Gott. Warum denn das?«
Theo zögerte. »Tut mir leid: Mordverdacht«, sagte er dann.
Am Abend hockte er mit Lars am Tresen von »Irmchens Bierstübchen«. Die winzige Kneipe war eine Wilhelmsburger Institution. Hier gab es keinen Schnickschnack, nur ehrliches, kühles Bier, weswegen sich Leute beiderlei Geschlechts, jeglichen Alters und jeder Nationalität bei Irmchen tummelten. Hier hatte Theo mit vierzehn Jahren kühn sein erstes Bier bestellt – und war dafür von Irmchen hinter dem Tresen herzlich ausgelacht worden. »Komm man wieder, wenn du trocken hinter den Ohren bist, Kleener«, hatte sie gesagt und ihm eine Cola spendiert. Theo fand, dass sie sich seither überhaupt nicht verändert hatte: Ihre toupierten, strohblonden Haare wirkten immer noch wie aus Beton gemeißelt, die Taille war schlank,
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