Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
hatte.
»Heute können wir das meiste mit PET und funktioneller Magnetresonanztomografie untersuchen. Aber zu Bergmans Zeit waren Tierversuche gang und gäbe. Und es hat immer Menschen gegeben, die das nicht verstanden haben.«
Theo bedankte sich und legte nachdenklich den Hörer auf. Tierversuche? Anna hatte sich jahrzehntelang für hungernde, von Krankheiten ausgezehrte Flüchtlinge eingesetzt. Seiner Erfahrung nach blieb den meisten, die mit so viel menschlichem Leid konfrontiert waren, kaum Energie übrig, um auch noch für die Tierwelt in den Kampf zu ziehen.
Am Nachmittag, als Theo sich gerade einen Latte macchiato mit seiner viel zu teuren italienischen Kaffeemaschine bereitete, kam Lilly in die Küche des Instituts geschlendert, das tragbare Telefon in der Hand.
»Lilly-Kind, wie oft muss ich dir noch sagen …«
Lilly verdrehte die Augen. »Er sagt, er ist ein Freund von dir«, fiel sie ihm ins Wort. »Ist also gar nichts Geschäftliches.« Sie setzte ihre hochnäsigste Miene auf.
»Und das weißt du dank telepathischer Fähigkeiten, schon bevor du rangehst?«
»Wenigstens sehe ich keine Gespenster«, konterte sie.
Theo, ein weiteres Mal von einer Neunjährigen ausmanövriert, nahm den Hörer.
»Hallo, hier ist Fatih«, tönte es. »Eine nette Assistentin haben Sie.«
»Das war Lilly. Zuckersüß, aber eine echte Plage.«
Lilly, die bis dahin dem Gespräch gelauscht hatte, streckte ihm wenig damenhaft die Zunge heraus und rauschte aus dem Raum.
»Ich weiß, wie das ist. Ich habe eine kleine Schwester.« Theo hörte Fatih geradezu grinsen.
»Wie funktioniert das eigentlich?«, fragte Theo sich laut.
»Was denn?«
»Na, dass die Stimme, die irgendwie in elektrische Impulse oder sonst was durch die Leitung geschickt wird, sich am Ende tatsächlich wieder so anhört, wie der Mensch, der da spricht.« An Theos plötzliche Gedankensprünge mussten sich neue Bekannte erst einmal gewöhnen.
Auch Fatih schwieg verwirrt. »Sie meinen, wie ein Telefon funktioniert? Kann ich Ihnen gern mal erklären, aber ehrlich gesagt ruf ich wegen etwas anderem an.«
»Ich höre.«
»Stellen Sie sich vor: Ich hab ihn aufgestöbert.«
»Wen?«
»Na, diesen alten Knaben. Bergman.«
»Wirklich?« Theo ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Das ist ja großartig!«
»Erst habe ich die feinen Hotels abtelefoniert, aber Fehlanzeige. Im ›Vier Jahreszeiten‹ waren zwar jede Menge Kongressteilnehmer abgestiegen, aber Bergman war nicht darunter. Dann habe ich bei der Kongressorganisation angerufen. Hab’ behauptet, ich sei von der Uni und hätte ein Brillenetui gefunden, in dem sein Name steht. Und? Der Kerl ist tatsächlich noch in Hamburg. Und nun halten Sie sich fest: Seit einem guten Jahr wohnt er hier sogar. An der Elbchaussee. Schicke Villa. Vielleicht sollte ich mich auch der Hirnchirurgie widmen …«
»Großartig! Fatih, du bist wirklich ein Held. Aber woher weißt du, dass Bergman in einer Villa wohnt? Du bist da doch nicht etwa hingefahren? Ich meine, der Mann ist womöglich ein Mörder.«
Fatih seufzte. »Alter, man muss heutzutage nirgends mehr hinfahren. Ich sag nur ›Google Earth‹. Damit kann man sich jeden Punkt der Welt von oben ansehen.«
Theo fühlte sich plötzlich alt und grau. Nicht, dass er davon nicht schon gehört hatte. Aber die virtuelle Welt war fürwahr nicht seine Leidenschaft.
Kapitel 8
Ein alter Mann
Montag, 22. Dezember 2008
Nach dem Mittagessen machte sich Theo auf den Weg. Im Bestattungsinstitut war wenig zu tun. Die meisten starben kurz nach den Feiertagen. Als wollten sie noch ein letztes Weihnachtsfest erleben. Auf dem Weg durch den Freihafen bewunderte er den Blick auf die Köhlbrandbrücke, die Wilhelmsburg seit 1974 zusätzlich zu den alten Elbbrücken mit dem Festland verband. Der Koloss war mit Stahlseilen an zwei mächtigen Pylonen aufgehängt, ähnlich wie die berühmte Brücke von San Francisco. Aber anders als dort schlug sie in ihrem Verlauf einen eleganten Bogen. Aus fünfzig Metern Höhe hatte man einen phantastischen Blick über den Hafen, in dem mächtige Stahlgiraffen ihre Hälse reckten und riesige Containerschiffe, gezogen von spielzeugkleinen Schleppern, majestätisch in ihre Docks glitten. Den Hintergrund schmückten die grünen Kupferdächer von Hamburgs Kirchen.
An diesem Tag aber wählte er den Weg durch den alten Elbtunnel. Seit dessen jüngerer großer Bruder 1975 in Betrieb gegangen war, wurde er fast ausschließlich von Fußgängern
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