Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Langohren drehten sich wie Radarantennen. Theo lehnte sich über den Zaun und zog zwei Mohrrüben aus der Tasche. Gemächlich kamen die beiden herangestakst. »Sind die kuschlig.« Hanna berührte behutsam eine samtweiche Schnauze, die an der Mohrrübe knabberte.
»Das sind Rosalinde und Spöke«, sagte Theo und kraulte den kleineren der beiden Esel zwischen den Ohren.
»Spöke?«
»Ja. Das ist Plattdeutsch für ›Spuk‹. Wie in ›Spökenkieker‹. Das sind Leute, die Gespenster sehen können« – wie ich, sendete er telepathisch an den Esel. Der warf ihm unter langen Wimpern einen unergründlichen Blick voll schläfriger Intelligenz zu.
»Glaube ich sofort, dass der Kerl mehr Wundersames sehen kann als wir Zweibeiner«, bestätigte Hanna.
Die Straße führte in einer sanften Biegung hinunter zur Kornweide. Jenseits der vierspurigen Straße änderte sich das Gesicht Wilhelmsburgs wieder einmal abrupt. Hier das bäuerliche Idyll, dort einige neue Einfamilienhäuser, die der Ländlichkeit der Elbinsel immerhin durch das eine oder andere Sprossenfenster Tribut zollten. Hinterm Deich, wie die noch junge Straße hieß, lebten vor allem Familien. Buntes Spielzeug lag auf den reifüberpuderten Rasenflächen, und ungeschickt von Kinderhänden geflochtene Stanniolgirlanden schmückten die kahlen Bäumchen. Sie gingen weiter und blieben einen Augenblick stehen, um den Kindern auf dem zugefrorenen kleinen Teich zuzuschauen. Ein paar Jungs lieferten sich eine lautstarke Eishockeyschlacht, die Mädchen übten Pirouetten.
»Vierzig Jahre Emanzipation, und nun schau dir die Rollenverteilung an«, seufzte Hanna.
»Gegen die Natur kann man nix machen«, sagte Theo. »Wobei …«, er deutete auf den kleinsten und energischsten der Eishockeyspieler. »Ich glaube fast, das da ist ein Mädchen.« Jetzt entdeckte auch Hanna die dünnen Zöpfe, die unter der Pudelmütze hervorlugten. In vornehmem Abstand zu der lebhaften Jugend zog ein älterer Herr gemächlich seine Bahnen. Er hatte die Hände im Rücken verschränkt und sah in seinem langen Mantel aus wie ein würdevoller Pinguin.
Sie gingen weiter in Richtung Papenbrack, wo Line und Emil Lüders wohnten. Die Bewohner der älteren Siedlungshäuser hatten sich ein weihnachtliches Wettrüsten geliefert. Überall blinkte und leuchtete es. Künstliche Eiszapfen funkelten mit discoartig schillernden Weihnachtssternen um die Wette. Einer hatte einen kompletten Rentierschlitten mit Festbeleuchtung auf dem Flachdach seiner Garage platziert. »Du meine Güte«, stöhnte Hanna auf, »da wird man ja blind.« Seit vor einigen Jahren lebensgroße Weihnachtsmänner in Mode gekommen waren, waren die Weißbärte überall im Einsatz. Sie hockten in Bäumen und auf Dächern oder baumelten an Leitern.
»Für Einbrecher ist das ja die perfekte Tarnung«, meinte Theo. »Man kann überall unbehelligt einsteigen. Wenn irgendwo so ein Kerl mit roter Mütze rumhängt, merkt doch kein Mensch, dass der tatsächlich lebendig ist.«
Sie kamen an einem Spielplatz vorbei, in dessen Mitte ein kleiner runder Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg wie ein vom Himmel gefallener Meteorit aufragte. Hanna schaute ihn überrascht an.
»Die stehen hier noch überall herum.« Theo machte eine flatternde Geste, die die ganze Elbinsel mit einbezog.
»Warum hier, und nicht im Rest von Hamburg?«
Er zuckte mit den Schultern. Darüber hatte er noch nie nachgedacht. »Vermutlich weil Wilhelmsburg als Industriegebiet besonders unter Beschuss stand. Außerdem sind die Keller hier nicht sicher genug«, meinte er dann. »Das sind ja alles eher Souterrains. Die haben rundherum kleine Fenster.«
Kinder hatten den kreisrunden Bau mit Blumen bemalt. Darüber lag eine weitere Schicht mit Graffiti.
»Als Jungs haben wir dort gespielt. Der Bunker war die Burg. Die eine Mannschaft saß auf dem Dach, und die andere Gruppe waren feindliche Ritter, die sie erobern wollten.«
Hanna sah die glatten Wände hinauf. Gar nicht so leicht, da hinaufzukommen.
»Im Eingang hat es immer gestunken. Vermutlich ist das immer noch so. Da kann man nämlich unbeobachtet pinkeln.«
Hanna rümpfte die Nase und lachte ihr bellendes Lachen.
Wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel erreicht. Anerkennend stellten die beiden fest, dass das alte Ehepaar hinsichtlich seines Weihnachtsschmucks Zurückhaltung übte. In den zwei kleinen Fenstern des Häuschens, die zur Straße schauten, standen zwei schlichte rote Kerzenständer. Im Garten schmückte eine
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