Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Ordnung?«
»Wir werden sehen. Versuchen Sie es einfach. Anna hätte es gewollt. Und Line auch, wenn ihr klar wäre, worum es geht.«
Hanna zog das ausgedruckte Foto von Bergman aus ihrer Tasche und legte es vor Line auf den Tisch.
»Line«, sagte sie. Die alte Frau hob den Kopf und lächelte sie an. »Wären Sie so lieb, sich das Foto anzusehen?«
Line griff nach dem Papier und setzte sich die Brille auf die Nase, die an einem goldenen Kettchen um ihren Hals baumelte.
»Wir würden gern wissen, wer der Mann ist. Kennen Sie ihn vielleicht?«
»Aber natürlich«, sagte Line entschieden. Hanna, Theo und Emil hielten die Luft an.
»Das ist Errol Flynn«, sagte Line stolz. »Der Schauspieler«, erklärte sie dann.
»Warten Sie, ich hol nur rasch …« Sie stand auf und ging hinaus. Dann hörten sie Line im winzigen Wohnzimmer nebenan herumkramen. Offensichtlich suchte sie etwas. Doch schon bald wurde es still.
»Sie hat schon wieder vergessen, was sie gesucht hat.« Emil seufzte. »Ich schau mal nach ihr.« Er ging nach nebenan.
»Sie schläft«, sagte er, als er zurückkehrte. »Das passiert ihr dauernd. Es muss sehr anstrengend sein, sich in seinem eigenen Leben nicht mehr zurechtzufinden.« Er ließ sich wieder auf seinen gepolsterten Küchenstuhl sinken.
»Bewundernswert, wie Sie sich um Ihre Frau kümmern.«
Emil warf Theo einen langen Blick über den Rand seiner Brille zu. »Ich finde daran absolut nichts Bewundernswertes. Es ist völlig selbstverständlich für mich. Das ist Line, meine Frau. Vor über sechzig Jahren habe ich fast den Verstand verloren. Da hat sie sich gekümmert. Nun bin eben ich an der Reihe.«
Hanna lächelte. »Nur eine von zehn Frauen verlässt ihren schwer kranken Mann. Aber neun von zehn Männern verlassen ihre Frau, wenn sie sehr krank wird.«
»Erbärmlich.« Emil schnaubte verächtlich. »Allerdings muss ich zugeben, dass ich Glück gehabt habe. Wissen Sie, bei vielen Alzheimerpatienten verstärkt sich der Wesenskern im Verlauf der Krankheit. Wenn die guten Manieren verblassen, der gesellschaftliche Lack bröckelt, kommt das wahre Ich ungeschminkt zum Vorschein. Und meine Line: Die war immer fröhlich, herzensgut und tapfer. Und das ist sie auch heute noch. Und ihre verrückten Einfälle, die hat sie auch immer noch.« Er lächelte, offenbar in Erinnerung an längst vergangene Eskapaden seiner Frau. »Für mich ist sie noch immer das junge Mädchen, in das ich mich auf den ersten Blick verliebt habe.«
»Wann war das?«, fragte Hanna.
»Am 27. Mai 1943. Den Tag werde ich nie vergessen. Ich saß zusammengekauert in der Abseite dieses Häuschens hier.« Er deutete vage nach oben. »Oben in der Mansarde gibt es links und rechts von der Dachschräge je einen winzigen Raum, für Koffer oder ähnlichen Kram. Er ist keinen Meter hoch und liegt direkt unter den Dachschindeln. Da hatte Lines Mutter, Mathilde, mich versteckt. Sie müssen wissen, dass meine Mutter Jüdin war. Sie ist in Auschwitz gestorben.«
»Wie fürchterlich.« Theo spürte verlegen, wie unzureichend seine Worte waren.
Emil überhörte den Einwurf. Seine Augen waren auf einen fernen Punkt gerichtet, an dem er nach den Geistern der Vergangenheit Ausschau hielt. »Mein Vater hat sich 1941 von ihr scheiden lassen – immerhin später als manch anderer. Mich hat er zwei Jahre später bei seiner alten Schulfreundin abgegeben wie ein Paket. Mich außer Landes zu schaffen, schien ihm zu gefährlich.« Er räusperte sich und nahm einen Schluck Tee.
»Im Mai 1943 saß ich schon seit einem Jahr in der Dachkammer. Tagsüber döste ich. Nachts streifte ich wie ein unruhiger Geist durchs Haus. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass mir in dem engen Kabuff die Luft ausging … aber dann kam Line.« Er schwieg kurz und erinnerte sich an jenen Tag vor über sechzig Jahren. »Sie war wie ein frischer Luftzug. Vielleicht wissen Sie, dass man sie aus Eichenhof hochkant hinausgeworfen hatte? Sie hatte Brot gestohlen, um die behinderten Kinder zu füttern. Dabei sollten die ja möglichst hungers sterben.« Seine Stimme klang sachlich, was die Worte umso schrecklicher machte.
»Tagsüber kroch sie zu mir ins Kabuff und erzählte. Märchen. Was die Nachbarn trieben. Stundenlang. Irgendwas. Sie trieb Bücher auf. Eine Taschenlampe. Batterien. Sie war mein rettender Engel in finsterster Nacht.« Er überkreuzte die Arme schützend vor der Brust und schaute vor sich in die Flammen des Adventskranzes. »Ich sehe sie noch, wie sie da
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