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Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Fux
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Leben und Tod zu spielen. Selbst eine Patientenverfügung, in der der Patient lange vor dem schicksalhaften Tag formuliert hatte, dass er beispielsweise keine Wiederbelebung wollte, war oft unbrauchbar. »Ich lass doch keinen Menschen verrecken wegen so einem Wisch«, hatte seine Kollegin Regine entrüstet gesagt. Die Beatmungsmaßnahmen, die viele Menschen fürchteten, waren oft eine Chance für einige kostbare Jahre. Auch Menschen, die nicht ganz gesund waren, konnten sich ihres Lebens freuen, wusste Theo. Ein Umstand, den die Naziärzte geflissentlich negiert hatten.
    Dabei sind Menschen extrem anpassungsfähige Wesen. Auch nach schweren Schicksalsschlägen pendelt sich die Grundstimmung auf ein persönlich vorgeeichtes Niveau ein, hatte Theo gelesen. Ob Lottogewinn oder Querschnittslähmung, nach einem Jahr sind die meisten wieder auf ihrem individuellen Glücksniveau angelangt. Einerseits deprimierend, andererseits tröstlich, dachte Theo. Er überlegte, ob er Nadeshdas Tod und den der winzigen Tochter tatsächlich inzwischen so weit verarbeitet hatte, dass er wieder auf Normalniveau war. Einerseits war es so, andererseits nicht, entschied er. Obwohl er jemand war, der zum Grübeln neigte, war er meistens zu beschäftigt, um sich in nutzlosen »Was wäre gewesen, wenn«-Gedankengängen zu verstricken. Wenn er unter Freunden war, seine Arbeit machte, dann fühlte er sich in zufriedenem Einklang mit sich und seinem Leben. Trotzdem gab es immer wieder Momente, in denen er Nadeshda heftig und schmerzhaft vermisste. In denen er mit einem Schicksal haderte, das ihm neben der Geliebten auch noch seine ungeborene Tochter entrissen hatte. Aber wäre er heute wirklich glücklicher, wenn die beiden da wären? Oder wäre ihre Anwesenheit längst zur Selbstverständlichkeit verblasst, die sein durchschnittliches Glücksniveau kaum heben würde?
    Mitten in seine Überlegungen hinein klingelte das Telefon. Ruhig verschloss er den Sarg wieder und zog die Schrauben an. Erst dann hörte er seine Mailbox ab.
    »Ilse Steiner lebt noch«, hörte er Hannas Stimme. »Und sie erfreut sich wieder ihrer Freiheit, wenn man das über jemanden sagen kann, der in einem Pflegeheim lebt. Ich fahre jetzt hin und zeige ihr das Foto.«
    Sie sieht aus wie ein Schaf, dachte Hanna verblüfft und hatte damit, ohne es zu ahnen, dieselbe Assoziation wie Anna fast sieben Jahrzehnte zuvor. Ilse Steiner lag im Bett ihres Pflegezimmers. Das weißblonde Gekräusel auf ihrem Kopf hatte sich im Alter grau gefärbt und hing in schafsohrenartigen Strähnen zu beiden Seiten ihres runzeligen Gesichts herab. In dem Gebiss, das der Zahnarzt ihr vor nunmehr achtzehn Jahren verpasst hatte, standen die Zähne fast so weit vor wie einst ihre eigenen. Die Augen lagen seltsam weit auseinander und waren von einem Kranz farbloser Wimpern umgeben. Aus ihnen sprühte die pure Bosheit.
    Unten am Empfang war man überrascht gewesen, dass sie Ilse Steiner besuchen wollte.
    »Ich glaube, die hat noch nie Besuch bekommen, seit sie hier ist«, hatte die junge Frau mit der lilafarbenen Frisur verblüfft gesagt. Nun wusste Hanna auch, warum. Es hatte nicht nur etwas mit Ilse Steiners mörderischer Vergangenheit zu tun. Sich in einem Raum mit ihr zu befinden, löste sofortiges Unbehagen aus.
    Was menschliche Charaktereigenschaften betraf, hatte Hanna ihre eigene Theorie. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass nicht nur Augenfarbe und Körpergröße, sondern auch gute wie schlechte Persönlichkeitsmerkmale fix und fertig in den Genen angelegt waren. Erfahrungen und Erziehung konnten sie lediglich verstärken oder abmildern. Je älter Hanna wurde, desto mehr schwand der Anteil, den sie den Umwelteinflüssen für die charakterliche Prägung einräumte.
    Und Ilse Steiner war offenbar nun einer von den Menschen mit angeborenem rabenschwarzem Erbgut, was den Charakter betraf. Ein in seiner Ausprägung seltenes Phänomen: Aus jeder ihrer Poren sickerte Bosheit. Hanna war gleichermaßen fasziniert wie angewidert.
    »Wer sind Sie, und was wollen Sie?«, krächzte das Schaf böse, bevor Hanna sich vorstellen konnte.
    »Guten Tag, Frau Steiner, mein Name ist Hanna Winter.«
    »Nie gehört.«
    »Ich bin Journalistin.«
    »Ha!« Das Schaf ruderte mit einem mageren Arm, um den das Fleisch lose schlotterte. »Einer von diesen Aasgeiern!«
    »Ich hoffe doch nicht.« Hanna zog einen Stuhl resolut neben das Bett der alten Frau. Ein beißender Geruch nach Kampfer stieg ihr in die Nase.
    »Und ich

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