Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
unter den Namen ihres Mannes den ihres Sohnes auf dem Grabstein eingravieren. Damals hatten sie die Trauergäste nach der Beerdigung zum »Leichenschmaus« eingeladen, wie es bis heute heißt. Doch diesmal war es anders. Sie hätte nicht sagen können, warum, sie wollte nach der Beerdigung keine ähnliche Feier, sie wollte für Horst etwas anderes. Sie wollte eine wirkliche Feier, in ihrem eigenen Garten, mit Kuchen und ohne das Schweigen. Horst bekam ein Sommerfest, etwa drei Monate später. Sie stellten Tische im Garten auf, sie backten Kuchen, und die Mutter hatte alle eingeladen, die sie mochte und die Horst gemocht hatten. Sie saßen in der Sonne, niemand starrte schweigend auf den Sarg, sie plauderten und sie tauschten Erinnerungen an Horst aus, und es wurde viel gelacht.
Die drei Monate, die seit der Bestattung vergangen waren, hatten die Trauer-Feier zu einer Feier werden lassen. Ohne Feierlichkeit.
Kann man das so machen? Man kann. Es gibt eine Vorschrift dafür, wie lange ein Verstorbener aufbewahrt werden darf bis zur Bestattung. Es gibt jedoch keine Vorschrift dafür, wie viel Zeit zwischen einer Bestattung und einer Trauerfeier vergehen darf.
Reisebegleiter
Lollo war lang und rot-weiß gestreift. Eine Mischung zwischen Puppe, Kissen und Hampelmann, mit ein paar Schnüren als Haare und Frotteefüßen, auf denen man herumkauen konnte. Lollo begleitete Felix in den Kindergarten, sogar als er schon größer war und wusste, dass Puppen »für Mädchen« sind. Lollo war mit ihm im Krankenhaus und Lollo saß noch auf dem Schrank, als darin längst keine Feuerwehrautos mehr aufbewahrt wurden, sondern Fußballtrikots. Von der Ente, von den Löwen und sogar von dem großen Eisbären würde er sich trennen, er würde sie verschenken oder eines Tages einfach vergessen. Aber nicht Lollo. Sie würde er mitnehmen eines Tages, auf seine letzte Reise, sie würde ihn begleiten und mit verblichenem, tausendmal geknülltem und gestreicheltem Stoff neben ihm liegen.
Was spräche dagegen? Schon vor Jahrhunderten gab man verstorbenen Kindern ein Spielzeug mit ins Grab, und in fast allen alten Kulturen waren Grabbeigaben die Regel, nicht die Ausnahme. Ägypter, Römer, Hethiter, Skythen – kein altes Kulturvolk wäre auf die Idee gekommen, Verstorbene ohne Grabbeigaben auf die letzte Reise zu schicken. Im Grab des Bogenschützen von Stonehenge (2300 v. Chr.) wurden rund hundert Gegenstände gefunden. Darunter waren goldene Haarspangen, Kupfermesser, Pfeilspitzen und Töpferware. In einem Grab aus der Eisenzeit in Offenbach-Bieber wurde ein Mädchen mit einem Knochenkamm, Amuletten aus Muscheln und Glasperlen sowie einer eisernen Schere bestattet. Grabbeigaben sind Zeugnisse der Zeit, sie spiegeln den Totenkult, den Glauben oder auch Aberglauben, das Leben und seine Bedingungen sowie die Entwicklung der Gesellschaft wider.
Die meisten Bestatter verkaufen lieber Totenhemden, als den Trauernden zu raten, sich über die Auswahl von Lieblingskleidung und Grabbeigaben, die dem Verstorbenen im Leben wichtig waren, mit dem Tod des geliebten Menschen auseinanderzusetzen.
Als meine Mutter starb, sie war eine alte Bäuerin, zogen wir ihr als erstes die Sachen an, die sie besonders gern getragen hatte. Dann legten wir ihr das Plumeau und den Bettbezug in den Sarg. Wir gaben ihr all die Dinge mit, die ihr im Leben etwas bedeutet und ihr Spaß gemacht hatten. Meine Mutter hatte einen »grünen Daumen«, sie brauchte nur einen Stock in die Erde zu stecken, und schon begann er zu blühen. Also gaben wir ihr alle Blumen des Bauerngartens mit, aber nicht nur die Blumen, sondern auch die dazugehörigen Samentütchen mit der Beschreibung des Samens, ihr Gartenhäckchen, ihre Gartenzeitung und ihre Gartenschürze. Und da meine Mutter gerne Shrimp-Cocktails gegessen hatte, fügte ich ihren Grabbeigaben am letzten Tag noch eine kleine Dose davon bei.
In der Auswahl und dem Hineinlegen der letzten Geschenke in den Sarg drückt sich ein Umgang mit Trauer aus, der nichts mit der Ex-undhopp-Mentalität unserer Gesellschaft zu tun hat. Die Handlung gibt uns Gelegenheit, noch einmal darüber nachzudenken, was im Leben des oder der Verstorbenen wichtig war: Was hat er/sie gerne gegessen, was hat er/sie gerne angezogen, was hatte er/sie für Hobbys? Die Symbole dafür, meist ganz einfache Dinge, werden in den Sarg gelegt. Mit großer Wirkung.
Trauer bedeutet auch, sich selbst den Unterschied zwischen Tod und Leben klarzumachen, zu erfahren, was es
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