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Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)

Titel: Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz Roth
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natürlich zu unserem Dasein gehören. Wird der Tote in einem kühlen Raum aufbewahrt, halten sich die fremden Gerüche, die durch Gärungs- und Fäulnisprozesse im Körper entstehen, in Grenzen. Mir sind Fälle bekannt, in denen Verstorbene über eine Woche im Kreise der Trauernden verblieben sind – eben so lange, bis die Familie bereit war loszulassen, den Toten zur letzten Ruhe zu betten.
    Darf Jürgen Fliege seine tote Mutter fünf Tage bei sich in der Wohnung behalten? Schauriger Skandal oder notwendiger Tabubruch? Hat sich der TV-Pfarrer da nicht ein bisschen viel Zeit gelassen, um von seiner Mutter Abschied zu nehmen?
    Um etwas so Unfassbares wie den Tod zu begreifen, braucht man Zeit und man braucht einen Raum, in den man sich zurückziehen kann. Warum darf dieser Trauerraum kein Raum in der eigenen Wohnung oder im eigenen Haus sein – wo man gemeinsam gelebt, geliebt und vielleicht auch gelitten hat? Es gibt keinen Ort, der uns vertrauter wäre als die eigenen vier Wände. Über 80 Prozent der Menschen sterben heutzutage im Krankenhaus. Was soll makaber oder verwerflich daran sein, wenn man den Trauernden die Möglichkeit gibt, in vertrauter Umgebung mit ihrem Verlust fertigzuwerden? Warum das Begreifen und schließlich das Abschiednehmen in eine kalte Friedhofshalle oder den gekachelten Leichenkeller eines Krankenhauses verbannen? Ist an diesen Orten überhaupt ein würdevoller Abschied von einem geliebten Menschen möglich? Ich behaupte: Nein, denn Trauer ist eine besondere Form der Liebe, Trauer braucht, genau wie Liebe, Vertrautheit. Und was könnte uns vertrauter sein als das eigene Zuhause?

Das eigene Hemd
    Das letzte Hemd hat keine Taschen. So spricht der Volksmund und zwar immer dann, wenn es einmal wieder Zeit wird für eine Erklärung dafür, dass man sein Geld gerade mit vollen Händen zum Fenster hinauswirft. Bedenkt man, was ein Totenhemd bei Bestattern häufig kostet, steckt in dem Halbsatz vom Geld und dem Fenster jede Menge Ironie. Totenhemden sind teuer und dienen eigentlich nur einem Zweck: Sie sollen den Hinterbliebenen Gelegenheit gegeben, dem Toten posthum ihre Wertschätzung und ihre Liebe zu beweisen. Manchmal dienen sie aber auch nur der Beschwichtigung des eigenen schlechten Gewissens. Sollten Wertschätzung und Liebe und natürlich auch das schlechte Gewissen nicht besser im Leben ihren Platz haben?
    Das Totenhemd wurde, wie alles, was mit Sterben und Tod zu tun hat, an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt. Wohl kaum jemand stellt sich heute zu Lebzeiten die Frage nach dem eigenen, ganz persönlichen letzten Hemd. Ist ein Mensch dann gestorben, sind die Angehörigen in ihrer Trauer und ihrem Schmerz häufig überfordert und überlassen die Kleiderordnung für die letzte Ruhe dem Bestattungsunternehmer. Von schlicht bis extravagant – das Angebot ist vielfältig. Ob goldbestickt oder mit Rüschen verziert, in unserer konsumorientierten Gesellschaft gibt es nichts, was es nicht gibt. Nicht selten werden Hunderte von Euro für ein Totenhemd hingeblättert.
    Den Trauernden, die zu mir kommen, rate ich, den Verstorbenen in seinen vertrauten Kleidern zu beerdigen. Wenn man sich als Angehöriger die Zeit nimmt, sich vor den Kleiderschrank des verlorenen Menschen zu stellen, und in Ruhe überlegt: »In welchen Kleidern hat sie oder er sich wohlgefühlt – in welchen Kleidern hatten wir vielleicht sogar gemeinsam schöne Momente?«, dann ist dies eine ganz persönliche Sache und auch ein Stück geleistete Trauerarbeit für den Hinterbliebenen.
    Wäre es nicht ein faszinierender Gedanke, sich, wie es in früheren Jahrhunderten üblich war und in manchen Gegenden Osteuropas auch heute noch ist, sein Totenhemd selbst zu nähen und es im Schrank mit der normalen Wäsche aufzubewahren, sozusagen als lebenslanges Memento mori?

Ein Fest für Horst
    Der 9. Mai 2001 war ein Montag. Am Sonntagabend klagte Horst über Schmerzen und Schwindel, er hatte Schweißausbrüche. Seine Mutter brachte ihn in die Klinik. Es vergingen keine zwölf Stunden, bis sie einen Anruf erhielt: Den Ärzten war es nicht gelungen, eine innere Blutung zu stillen, multiples Organversagen. Horst war tot. Er wurde 37 Jahre alt.
    »Es gibt nichts Schlimmeres als einem Kind ins Grab zu schauen«, sagten die Verwandten vom Land bei der Beerdigung zu Horsts Mutter. Seine Freunde, sein Bruder, die Familie, alle waren sie da. Keiner konnte es fassen. Zwei Jahre zuvor war die Mutter Witwe geworden, und nun würde der Steinmetz

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