Das letzte Hemd ist bunt: Die neue Freiheit in der Sterbekultur (German Edition)
zu lernen, welche Kräfte sich aus dem Leid entwickeln können.
Der Tod kommt immer unerwartet.
Über Selbstverständlichkeiten und Tabus
Wenn der Tod einen anderen Platz im Leben und in der Gesellschaft erhalten soll, gehören Themen wie Tod und Trauer dorthin, wo wir junge Menschen auf »das Leben« vorbereiten: an die Schulen. Es hat lange gedauert, bis sich die Gestalter von Lehrplänen dazu durchgerungen haben, schon Kindern im Grundschulalter zu vermitteln, wie Kinder entstehen. Es ist noch nicht allzu lange her, dass Wirtschaftsthemen an allgemeinbildenden Schulen so gut wie nicht vorkamen. Was ein »business plan« ist, wie der Aktienmarkt funktioniert, was Unternehmertum bedeutet und wie Unternehmen organisiert sind, galt als weniger relevanter Ausschnitt der Wirklichkeit. Auch das ändert sich seit einigen Jahren, nicht zuletzt dank der Kooperation von Unternehmen und Schulen. Was spricht dagegen, mit jungen Menschen über Sterben, Tod und Trauer zu sprechen – auch ohne einen konkreten, tragischen Anlass? Ich erlebe oft, dass gerade Kinder einen unbefangeneren Umgang mit diesen Themen haben als es Erwachsene vermuten und ihnen zutrauen.
Die Angst, im Umgang mit Sterbenden und Trauernden zu versagen, die Angst etwas falsch zu machen, ist kein guter Grund, sich aus der Verantwortung zu ziehen. Wer im Angesicht von Trauer, Tod und Leid nur auf und davon läuft, wird von seiner eigenen Angst eingeholt.
Es mag wie eine Utopie klingen, aber ich wünsche mir, dass sich die Diskussion um Alter, Tod und Trauer in weite Bereiche der Gesellschaft fortsetzt und dass es bald eine Generation gibt, die über Leben und Sterben so selbstverständlich spricht wie heute über das Kinderkriegen. Ich wünsche mir, dass Trauernde sich nicht mehr in ihrem Leid verstecken müssen, nicht mehr isoliert werden, als wäre der Tod eine ansteckende Krankheit, sondern Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Unterstützung erfahren. Ich wünsche mir, dass Tod und Trauer nicht als »schwarzes Loch« begriffen werden, um das man so lange wie möglich einen weiten Bogen macht, sondern als eine lebendige Quelle für Lebensfragen, für das Bewusstsein von der Einmaligkeit eines Menschen, für Werte, die weit in die Gesellschaft hineinwirken.
Trauerarbeit sollte am Sterbe- oder Totenbett beginnen. Je früher, desto besser. Ja, das Leben geht weiter. Immer weiter. Der Satz ist aber nur dann keine Binsenwahrheit, er ist nur dann tröstlich, wenn der Trauernde ihn selbst ausspricht.
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Individuelle Abschiede
Der Tod hat viele Farben
Ich möchte auf den folgenden Seiten anhand von einigen Beispielen und Geschichten eine Vorstellung davon vermitteln, wie viele Möglichkeiten es gibt, im Umgang mit Tod und Trauer mehr »Buntheit« zu wagen.
Es sind Geschichten, die abweichen von den geraden Wegen, die der Einförmigkeit und Geradlinigkeit eines typisch deutschen Friedhofs, eines typisch deutschen Grabsteins und einer typisch deutschen, zeitgenössischen Trauerfeier etwas entgegensetzen. Sie sind ein Plädoyer dafür, das Denken an den Tod – den eigenen, den der Nächsten – zuzulassen und Abschiede so individuell zu begehen, als wären es Geburtstagsfeiern. Sie sind ein Plädoyer dafür, sich mit Sterben, Tod und Trauer anders zu befassen, als es im Fernsehen der Normalfall ist – der Tod als Feind, der uns jederzeit aus dem Hinterhalt anfällt und niederstreckt.
Dieses Kapitel ist wie eine Einladung zu einer Reise: Was würden wir in unserem Koffer mitnehmen auf die letzte Reise? Wie stellen wir uns den Abschied vor, was wäre ein Abschied, der wirklich zu uns und zu unserem Leben passt?
Einige der Beispiele und Geschichten werden den Lesern meiner früheren Bücher bekannt vorkommen. Sie mögen hier als Anregung verstanden werden, wie man die letzte Reise und »das letzte Hemd« bunt färben kann, und sie mögen als Denkanstöße, die jedem Einzelnen helfen, herauszufinden, wie er mit Tod, Trauer und Abschied umgehen möchte.
Fünf Tage Abschied
Sechsunddreißig Stunden steht uns der Gesetzgeber im Allgemeinen zu, um uns zu Hause von einem verstorbenen Angehörigen zu verabschieden. Warum gerade sechsunddreißig? Diese Frage wird wohl niemand beantworten können. Der Prozess der Zersetzung, des Verfalls, hält sich jedenfalls nicht an die Vorgaben der Bestattungsgesetze. Während der ersten drei Tage werden Veränderungen sichtbar (die Haut wird blass, die Wangen fallen ein, die Totenstarre tritt ein), die unumstößlich und ganz
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