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Das letzte Hemd

Das letzte Hemd

Titel: Das letzte Hemd Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Puettjer , Volker Bleeck
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Telefon erzählt hatte.
    Der neue Mann an Hendrikes Seite, den sie wie ein gerade erstandenes
kostbares Accessoire herumzeigte, war eindeutig jünger als ihre Tochter und
ganz offensichtlich schwer gelangweilt. Jedenfalls stolzierte er mit einem
derart blasierten Gesichtsausdruck durch die Gegend, dass Rosenmair versucht
war, ihn zu fragen, ob der Rest seiner Mimik vielleicht noch im Hotelzimmer
sei. Der Mann trug unter seinem Anzug ein rosafarbenes Hemd mit offenem
Stehkragen und blauem gold gesprenkeltem Seidentuch, dazu rote Lackschuhe und
eine so ausladende wie geschmacklose teure Sonnenbrille im stylish gegelten
Haar. Und was Hendrike Steinhoff an Namenszusätzen zu viel hatte, fehlte dafür
ihrem Begleiter, den sie überall nur mit den Worten »Das ist Zarbó, er ist
Künstler, Performance Art« vorstellte. Konversation gehörte ganz offensichtlich
nicht zu seinen Künsten, denn er schenkte jedem, dem er vorgestellt wurde, nur
ein kurzes Nicken, allenfalls gefolgt von einem arroganten Lächeln.
    Rosenmair schloss ihn gleich vom ersten Moment an ins Herz.
    Von der Kirche aus sollte es eigentlich direkt in das
gutbürgerliche Restaurant gehen, doch zuerst gab es »blinden Aktionismus«, wie
Rosenmair es nannte. Unter den Hochzeitsgästen waren mit Gas gefüllte Ballons
und Postkarten verteilt worden, die auf der Vorderseite ein schlecht
retuschiertes Foto des Brautpaares vor internationalen Traumzielen wie dem
Eiffelturm in Paris, der Seufzerbrücke in Venedig oder der Skyline von Las
Vegas zeigten. Jeder Hochzeitsgast sollte einen Wunsch für das Brautpaar auf
seine Postkarte schreiben, sie an den Ballon knoten und schließlich
gleichzeitig mit allen anderen gen Himmel steigen lassen.
    Rosenmair war für einen Moment versucht, »Lasst diesen Irrsinn
enden, und zwar sofort!« auf die Postkarte zu schreiben, am besten nicht nur
auf seine, sondern gleich auf alle, aber dann ließ er seinen Blick über die mit
glühenden Wangen und leuchtenden Augen eifrig schreibenden Hochzeitsgäste
schweifen und seufzte. Solch kindliche Begeisterung hatte er noch nie bei
erwachsenen Menschen gesehen, die Worte wie »Geld«, »Glück«, »Gesundheit« und
»steuerfreie Sonderbezüge in zinssicherer Anlage« auf albern bedruckte Karten
kritzelten. Er wollte kein Spielverderber sein – das heißt, er wollte schon,
aber er ließ es dann doch lieber bleiben, auch mit Blick auf Marlene, die ihn
immer wieder warnend anstieß.
    Nachdem er seine Karte endlos in den Händen gedreht hatte, setzte er
den breiten Filzstift an und begann, »Ruhe und Frieden« zu schreiben. Er kam
aber nur bis »Fried«, weil ihn zwei Kinder, die Fangen spielten, heftig
anstießen und beinahe umrannten. Um nicht hinzufallen, musste Rosenmair sich
ausbalancieren und rutschte mit dem Stift ab. Er fluchte kurz, besah sich das
Missgeschick und beschloss, es damit gut sein zu lassen. So stieg zusammen mit
all den anderen Ballons auch eine Postkarte mit dem etwas rätselhaften
Hochzeitswunsch »Ruhe und Frieda« in den Abendhimmel.
    Der »Hochzeitssaal«, wie man auf der goldenen Tafel vor der Tür
lesen konnte, war so überbordend kitschig wie geschmacklos geschmückt. Das
Essen war zwar tatsächlich ganz ordentlich, der weitere Ablauf des Abends
jedoch ganz und gar nicht. Zuerst sprang Philipps Tante Irmi auf, rannte zum
Discjockey, grapschte sich das Mikrofon und verkündete, es gebe nun ein Spiel
für das Brautpaar. Rosenmair versuchte auf der Stelle, die Flucht zu ergreifen,
und rutschte mit dem Stuhl nach hinten. Doch seine schwerhörige Tischnachbarin
legte ihre Hand auf seinen Unterarm und brüllte in die gerade entstandene
Stille hinein: »Nun warten Sie doch mal ab. Die Irmi hat immer so nette Ideen.«
Rosenmair verharrte in der Bewegung, guckte hoch und sah in die Gesichter der
versammelten Hochzeitsgesellschaft. Gezwungenermaßen rückte er seinen Stuhl
wieder gen Tisch, nahm sein Glas und prostete allen zu. Inzwischen hatte Irmi
Ann-Britt und Philipp aufgefordert, nach vorn zu kommen, und erklärte kurz das
folgende Spiel: Die beiden sollten zur Melodie des Kinderlieds »Hänsel und
Gretel« einen Text singen, den Irmi schneckenförmig auf Papier geschrieben
hatte, sodass die beiden beim Singen das Papier permanent drehen mussten.
Granatenidee, dachte Rosenmair, während seine Tischnachbarin erwartungsvoll auf
die Stuhlkante rutschte. Der Discjockey startete die Musik, und Ann-Britt und
Philipp begannen zu singen, während sie eifrig das Blatt drehten.

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