Das letzte Hemd
Irmi hatte
sich selbst übertroffen, die Reime, die das Brautpaar singen musste, grenzten
an Körperverletzung. In Verse verpackt ging es um Ort und Beginn ihrer
Liebesbeziehung, auch ihr erstes Kennenlernen und die Verlobung. Die Chose
gipfelte in dem Liedtext: »Sie fassten sich ans Händchen und damit den
Entschluss: Mit dem Singledasein, da ist nun aber Schluss; auf ihrer tollen
Reise im fernen Amerika sagten die beiden dann in Las Vegas Ja.«
Rosenmair sprang auf und verließ wortlos den Saal. Er brauchte
dringend frische Luft und danach noch mehr Wein, wenn er es bis nach dem
Dessert auf dieser Veranstaltung aushalten sollte.
Als er nach einer Viertelstunde den Raum wieder betrat, saßen
Ann-Britt und Philipp Rücken an Rücken mit je einem Nudelholz und einer
Bierflasche in der Hand und stellten sich dem Ehetauglichkeitstest, bei dem
sich schon sehr bald herausstellte, dass Ann-Britt ihren Mann sehr gut, er sie
aber so gut wie gar nicht kannte. Was Rosenmair gewiss nicht wunderte. Marlene
schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und prostete ihm zu.
Noch nie hatte er sich so sehr Dessert gewünscht.
Rosenmair setzte sich wieder. Wenigstens der Rotwein war gut. Aber
dafür hatte er ja schließlich auch höchstpersönlich gesorgt. Er hatte schon
gewusst, warum. Genau das, was sich hier gerade ereignete, hatte er befürchtet.
Und aus diesem Grund wäre er lieber zu Haus geblieben und hätte sich später
einfach die Fotos angesehen, die waren wenigstens ohne Ton. Er sah sich an
seinem Tisch um und seufzte erneut. Marlene war in ein Gespräch mit ihrem
Tischnachbarn vertieft, und die Nachspeise ließ immer noch auf sich warten. Bis
dahin musste er noch durchhalten, erst dann könnte er gehen, alles andere wäre
hochgradig unhöflich. Unhöflichkeit war andererseits aber inzwischen so etwas
wie sein Markenzeichen, und so überlegte Rosenmair ernsthaft und einen gar
nicht so kurzen Moment lang, ob er sich nicht doch einfach vom Acker machen
sollte.
Offenbar hatte man ihm seine Absicht angesehen, denn der
Schwiegervater seiner Tochter kam mit den Worten »Von der Truppe entfernen,
was?« an seinen Tisch. Karl-Heinz Lindner, ein rotgesichtiger Riese, der selbst
am lautesten über seine schlechten Witze lachte und eine auch physiognomische
Ähnlichkeit mit seinen Baggern und Betonmischmaschinen mitbrachte, redete
einfach weiter. »Tarnen, täuschen und verpissen, wie?« Er donnerte ihm mit der
Wucht einer Abrissbirne eine Hand auf die Schulter und war im nächsten Moment
schon wieder weg, zur Bühne, um die Tombolapreise anzukündigen, die allesamt
von ihm gespendet worden waren, wie er ganz unbescheiden verkündete.
Kurz danach griff sich Ann-Britt das Mikrofon und ließ die gesamte
Hochzeitsgesellschaft wissen, dass es noch eine weitere gute Neuigkeit gab, die
sich in nicht mal neun Monaten einfinden würde. Durch den darauffolgenden Applaus,
Jubel und das gegenseitige Schulterklopfen sah Rosenmair seine Chance auf einen
eleganten Abgang gänzlich dahinschwinden. Denn Ann-Britt hatte ihn so
platziert, dass er sich nicht einfach davonstehlen konnte.
Rosenmair lächelte seine schwerhörige Tischnachbarin an – Tante
Ilse, Else oder Elsie, da war er sich nicht mehr sicher – und hoffte, dass sie
seine Grimasse auch tatsächlich als Lächeln interpretieren würde. Dann trank er
sein Glas aus und winkte dem Kellner nach einer neuen Flasche.
Rosenmairs persönlicher Tiefpunkt aber kam erst noch: die
Tombola. Eigentlich hatte er gar nicht mitmachen wollen, dann aber unter
Protest doch noch Lose gekauft – und gewonnen. Begleitet von tosendem Applaus
überreichte Ann-Britts Schwiegervater ihm einen Gutschein für eine
»Minikreuzfahrt«. Gleich darauf, Rosenmair war es noch nicht einmal gelungen,
die Bühne wieder zu verlassen, gewannen – ganz zufällig – auch alle anderen
Familienmitglieder solch einen Gutschein. Lindner senior, der edle Spender,
erklärte, es solle eine schöne Gelegenheit sein, sich mal so richtig
kennenzulernen, alle zusammen, der ganze Clan für drei Tage auf einem Schiff,
so richtig gemütlich! Rosenmair war wie betäubt, und das lag nicht am Rotwein.
Während Musik einsetzte, taumelte er von der Bühne. Dass »dä Kaleinz« ihm noch
einmal seine Pranken aufdrückte, kriegte er gar nicht mehr richtig mit und auch
nicht dessen Satz, dass man demnächst ja sowieso mehr voneinander sehe, wenn
die Kinder erst in der Nähe wohnten.
Die Musik wurde lauter, und eine deutsche Band
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