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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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fernen Wolke. »Sieh ihn dir an.« Beide Jungen schauten zu Freemantle. In sich zusammengesunken saß er da, zerschmettert von einer Trauer, deren Wahrheit keinen Zweifel zuließ.
    Jack senkte die Stimme. »Hast du dich mal gefragt, wieso er voller Blut ist oder wie er sich so verletzt hat? Aus welchem Grund er dich wirklich neulich geschnappt hat?«
    »Gott hat es ihm gesagt.«
    »Komm mir nicht mit Klugscheißereien, Mann. Wenn dieser Typ aus dem Regen reinkommt, dann müssen wir uns überlegen, was wir mit ihm anfangen. Ich will nicht der Einzige sein, der darüber nachdenkt.«
    »Ich habe nur eine Frage, und sobald er da fertig ist« — Johnny deutete auf den Regen, das Grab, den Schlamm —, »dann werde ich sie ihm stellen.«
    »Und wenn er sie nicht beantwortet?«
    »Ich hab ihm geholfen, seine Tochter zu begraben.«
    Jack wurde lauter. »Und wenn er nicht antwortet?«
    »Gib mir den Revolver«, sagte Johnny.
    »Wenn du ihn bedrohst, bringt er uns um.«
    Johnny streckte die Hand aus. Jack schaute zu dem Riesen im Schlamm hinüber und ließ Johnny die Waffe in den Schoß fallen.
    Sie war kalt und nass und schwer.
    »Ich bin so dicht dran«, sagte Johnny.
    Aber Jack war schon fort.
    Johnny beobachtete den Mann und den Regen und den lautlos anschwellenden Schlamm. Nach einer Weile schob er die Hand in die Tasche. Als er sie wieder herauszog, hielt er eine Feder zwischen den Fingern, klein und weiß und zerdrückt. Er hielt sie lange in der Hand und sah zu, wie sie im prasselnden Regen schlaff wurde. Er überlegte sich ernsthaft, sie wegzuwerfen, aber am Ende schloss er die Finger und wartete, den Revolver in der einen Hand, die letzte Feder in der anderen.
    Stunden später verblassten die Blitze im Norden. Der Wald triefte. Freemantle schaute hinauf zu den Wolken, die über den Himmel jagten, und zum schemenhaften Schimmer des Mondes dahinter. Es war das erste Mal, dass er sich bewegte, seit er die Erde über seiner Tochter geglättet hatte. Jack war nicht wieder aufgetaucht, hatte Johnny nicht mehr beschworen, ins Trockene zu kommen. Da war nur der langsame Marsch der Stunden gewesen, das Blitzen und Donnern, das Unwetter, das kaltes Wasser vom Himmel geschüttet hatte. Da waren die harte Steine der Mauer in Johnnys Rücken gewesen, und sie beide, fünf Schritte voneinander entfernt und reglos. Das hatte sich die ganze Zeit nicht geändert.
    Johnny steckte die Feder in die Tasche und schob den Revolver unter sein Hemd.
    Freemantle stemmte sich hoch und schaute dem Gewitter nach. »Ich dachte, ich werde getroffen.« Im Dunkeln waren seine Augen wie vergossene Tinte, und sein Mund war eine klaffende Wunde, erfüllt von Überraschung und Enttäuschung. Es war nach Mitternacht, und die Zeit lag hinter ihnen wie eine beschwerliche Straße. Freemantle hob die Schaufel und seinen weggeworfenen Schuh auf. Auf die Schaufel gestützt wie auf eine Krücke, kam er auf Johnny zu. »Macht nichts. Es ist geschafft.«
    »Ich muss mit Ihnen sprechen.«
    »Ich bin fertig.«
    Das weiße Tor schwang auf lautlosen Angeln auf. Freemantle bewegte sich langsam, und Johnny folgte ihm. »Bitte.«
    »Ich bin müde.« Müde, dachte Johnny. Und krank. Die Luft, die hinter dem großen Mann herwehte, roch nach Infektion. Er stolperte einmal, als er auf die Scheune zuging. Johnny streckte die Hand aus, aber ebenso gut hätte er einen umstürzenden Baum auffangen können. Freemantles Haut war hart und heiß. Fast wäre er gefallen. »Müde«, sagte Freemantle noch einmal, und dann waren sie bei der Scheune.
    Drinnen sah Johnny Staub und Stroh und Werkzeug aus Metall. Zwei große Laternen, die an Ketten hingen. Wärme flutete über sie hinweg, als sie durch die Tür traten. In der hinteren Ecke stand ein Eisenofen auf Schieferplatten. Er war rund, und Kohlen glühten hinter dem Gitter. Jack lag auf einem Haufen Stroh und hatte seine Jacke zum Kopfkissen zusammengefaltet. Er sprang auf, als Freemantle die Tür schloss.
    »Es ist okay«, sagte Johnny und kam näher. Jacks Augen glänzten im Schein der Glut aus dem Ofen. »Weinst du?«, fragte Johnny.
    »Nein.«
    Das war gelogen, aber Johnny ließ es hingehen. Schatten streckten sich lang in der geschlossenen Scheune. Freemantle wirkte riesenhaft und gefährlich. Johnny hielt den Revolver unter dem Hemd versteckt. »Ich heiße Johnny. Das ist Jack.«
    Freemantles Blick war starr. Das Weiße seiner Augen war gelblich verfärbt, und seine Lippen waren so rissig, dass das Fleisch hervorschimmerte.

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