Das letzte Kind
sein, wie ein Junge es sein konnte, wenn er trotzdem noch ein Junge war. Hunt zögerte; er wusste, dass er nichts sagen konnte, um irgendetwas besser zu machen.
»Junge ...«
»Sie ruft nie an.«
»Wer?«
»Mom.« Sein Gesicht war nur das eines Jungen.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Sag gar nichts.«
Ein verletzter, zorniger Junge.
»Allen, ich —«
»Mach einfach die Tür zu.«
Hunt konnte sich nicht von der Stelle rühren.
»Bitte«, sagte Allen, und sein Blick war ein Hammerschlag in die Magengrube. Ein Stein legte sich auf Hunts Herz, ein Stein mit dem Gewicht von einer Million enttäuschter Erwartungen und der Gewissheit, dass das Leben für seinen Sohn eigentlich anders sein sollte.
»Bitte«, sagte Allen noch einmal, und Hunt hatte keine Wahl mehr.
»Gute Nacht, Junge.«
Hunt schloss die Tür und ging nach unten. Er stopfte Pappschachteln und Tüten in den Mülleimer und goss sich ein Glas Scotch ein, das er nicht austrinken würde. Der Tag rollte über ihn hinweg: Tod und verachtenswerte Menschen, aus dem Leben gerissene Kinder, Unmengen von immer noch unbeantworteten Fragen. Er brauchte eine Dusche und zehn Stunden Schlaf. Sein Gesicht fühlte sich unter seinen Fingern an wie das eines alten Mannes. Er ging in sein Arbeitszimmer, schloss den Schreibtisch auf und nahm Alyssa Merrimons Akte heraus. Lange starrte er ihr Bild an und überflog die Notizen und die hingekritzelten Fragen, aber in Gedanken war er bei Yoakum. Im Geiste ließ er noch einmal den Augenblick ablaufen, in dem Meechum gestorben war, den Schießpulvergeruch, Yoakums ruhige Hand und seine Augen, glatt wie Glas und still.
Der Anruf kam um halb eins. »Sind Sie noch wach?«, fragte Yoakum.
»Ja.«
»Betrunken?«
Hunt klappte Alyssas Akte zu. »Nein.«
»Ich aber.«
»Was ist los, John? Was haben Sie auf dem Herzen?« Er kannte die Antwort. »Wie lange machen wir das schon?«, fragte Yoakum. »Schon lange.«
»Als Partner?«
»Und als Freunde.« Das Schweigen zog sich hin. Hunt hörte Yoakum atmen. »Was haben Sie denen erzählt?«, fragte er schließlich.
»Ich habe gesagt, was passiert ist.«
»Danach hab ich nicht gefragt, und das wissen Sie.«
Hunt sah seinen Freund vor sich in dessen kleinem Haus, mit einem Glas in der Hand im Wohnzimmer, wo er in die Asche eines längst erloschenen Feuers starrte. Yoakum war dreiundsechzig. Er war seit über dreißig Jahren Cop, und das war alles, was er hatte. Hunt antwortete nicht auf die Frage.
»Sie sind mein Freund, Clyde. Er ist mit der Axt auf Sie losgegangen. Was hätte ich denn tun sollen?«
»Haben Sie deshalb auf das Herz gezielt?«
»Natürlich.«
»Nicht aus Wut? Aus Rache?«
»Rache wofür?« Jetzt erwachte eine andere Art von Zorn.
»Sie wissen, wofür.«
»Sagen Sie's mir, Clyde. Sagen Sie mir, wofür.«
»Für diese Kinder. Für sieben Gräber in einem schlammigen Wald. Dafür, dass diese üble Scheiße jahrelang vor unserer Nase stattgefunden hat.«
»Nein.«
»All die Jahre, Yoak. All die Jahre — und ich hab nie gesehen, dass Sie etwas persönlich genommen haben. Aber heute sah es so aus.«
»Ein Mörder ist mit der Axt auf meinen Partner losgegangen. Auf meinen Freund. Das können Sie persönlich nennen, aber man kann auch sagen, es ist mein Job. Also, was haben Sie denen erzählt?«
Hunt zögerte. »Haben Sie ihnen gesagt, dass es ein sauberer Rettungsschuss war?«
»Wir sind bei den Fakten geblieben. Ich wurde nach meiner Meinung gefragt, doch die hab ich denen nicht gesagt.«
»Aber das werden Sie noch tun.«
»Morgen«, sagte Hunt. »Morgen, ja.«
»Und was werden Sie sagen?«
Hunt griff nach dem Scotch. In der Flüssigkeit in dem niedrigen Kristallglas glühte ein kleines Licht. Er ließ den Augenblick an sich vorüberziehen: die Axt, die herabfuhr, Yoakum, der durch die Tür kam. Wie hatte sein Blickwinkel ausgesehen? Hatte er den tödlichen Schuss abgeben müssen? Der Computer hatte seitlich gestanden, aber wie weit? Hunt versetzte sich in Yoakums Position, und er glaubte es zu sehen, so, wie es ausgesehen haben konnte.
Doch Yoakum sprach, bevor Hunt etwas sagen konnte. »Haben Sie das Verfahren gegen Holloway eingeleitet, wegen Behinderung der Ermittlungen?«
Nach Meechums Erschießung hatte Hunt Holloways Anruf fast vergessen. »Nein«, sagte er.
»Aber das tun Sie noch?«
»Ja.«
Schweigen erfüllte die Leitung, und es war ein hässliches Schweigen. Hunt kippte seinen Scotch hinunter. Er wusste, worauf dieses
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