Das letzte Kind
»Levi.« Er zog sein Hemd aus und hängte es an einen Nagel neben dem Ofen. Seine Brust und die Arme waren dick mit Muskeln bepackt. Lange, schmale Narben sahen aus wie Messerschnitte, und eine harte, wulstige Runzel konnte von einer Schussverletzung stammen. Der Ast in seiner Seite war gezackt und schwarz.
»Das sieht übel aus«, sagte Jack.
»Es tut nur weh, wenn ich versuche, ihn rauszuziehen.«
Ein Geruch stieg auf, feucht und erdig. Da, wo Levi stand, tropfte Wasser auf den Steinboden, verblasste zu einer dunklen Andeutung und verflüchtigte sich in der Wärme. Seine Lider hingen herab. »Fast da«, sagte er.
»Was?«
Er riss die Augen auf. »Hab vergessen, wo ich war.«
Johnny öffnete den Mund, aber Jack war schneller. »Warum haben Sie den Sarg hier rausgeschleppt?« Freemantle fixierte ihn mit fiebrig gelben Augen. »Warum ich ihn geschleppt hab?«
»Ich frag ja nur.«
»Ich kann nicht Auto fahren. Momma hat gesagt, Autofahren ist was für andere Leute.« Die Augen fielen ihm wieder zu, sein Körper lehnte sich nach links, und er tat einen taumelnden Schritt zur Seite, um nicht zu fallen. »Momma hat gesagt ...«
»Alles okay, Mister?«
Er riss die Augen auf. »Wer will das wissen?«
»Ich heiße Johnny. Schon vergessen?«
»Ich kenne niemanden, der Johnny heißt.«
»Sie müssen ins Krankenhaus. Sie brauchen einen Arzt.«
Freemantle ignorierte ihn und humpelte zu einem Bord an der hinteren Wand. Johnny sah Maschinenöl, Rattengift, hakenförmige Metallgeräte und Lumpen, die vom Alter steif waren. Freemantle nahm ein rostiges Teppichmesser und eine von Spinnweben verklebte Plastikflasche herunter. Er setzte sich vor den Ofen, schnitt seine Hosenbeine ab und warf die Fetzen auf den Boden. Dann schraubte er die Flasche auf und goss eine braune Flüssigkeit auf die Wunden an seinen Knien.
Jack schob sich neben Johnny. »Das ist für Tiere«, flüsterte er.
»Blödsinn.«
»Da steht: >Nur für tierärztlichen Gebrauch<.« Jack zeigte auf die Flasche, und die Jungen schauten zu, wie Freemantle es über sein Knie schüttete. Was immer es sein mochte, es tat weh.
»Alles okay?«, fragte Johnny schließlich. Freemantle nickte und hielt die Flasche dann über die Wunde in seiner Seite. »Sie brauchen Antibiotika.«
Freemantle beachtete ihn nicht. Er versuchte, den Stofffetzen von seinem Finger zu reißen, aber das Fleisch war so angeschwollen, dass der Stoff sich wie Draht hineingrub. Er schnitt ihn mit dem Messer ab, und Johnny sah die zerfetzte Wunde, die seine Zähne hinterlassen hatten. Er wandte sich ab, als Freemantle die Flüssigkeit auf den Finger träufelte. Zweimal. Dreimal. Seine Muskeln verkrampften und entspannten sich wieder, und dann legte er sich auf die Steine. »Ihr Jungs solltet nicht hier draußen sein.«
»Ich will nur mit Ihnen reden.«
»Ich bin fertig.«
»Wie ist Ihre Tochter gestorben?«
»Herrgott, Jack. Halt die Klappe«, zischte Johnny wütend. Er war jetzt endlich hier, und da wollte Jack alles versauen.
»Ich hab gehört, Sie haben diese Leute umgebracht.« Jacks Stimme klang gepresst. »Wenn Sie einen guten Grund dafür hatten, brauche ich mir nicht solche Sorgen darum zu machen, dass Sie uns auch umbringen könnten.« Jack hielt sich fluchtbereit. Er hatte sich schon halb zur Tür gewandt.
Levi Freemantle richtete sich langsam auf. Seine Augen waren noch gelber geworden, und seine Haut war grau wie Asche. »Welche Leute umgebracht?«
Er wusste, welche Leute. Johnny sah es glasklar. Wachsamkeit trat in den Blick des Mannes. Anspannung erfasste seine Schultern. Johnnys Finger legten sich auf die Waffe unter seinem Hemd.
Freemantle sah die Bewegung, und ihre Blicke trafen sich. Er erinnerte sich an den Revolver. Johnny sah auch das.
Plötzlich war das alles verflogen. Freemantle sackte in sich zusammen. »Sie können mich jetzt haben. Erschieß mich ruhig. Ist mir egal.«
Johnny nahm die Hand von der Waffe. »Weil Sie sie begraben haben ?«
»Weil sie weg ist.«
»Wie ist sie gestorben?«
Freemantle zog einen feuchten Umschlag aus der Hosentasche. Er war zerknüllt und so durchweicht, dass das Papier fast schon zu Brei geworden war. Die Tinte war zum großen Teil verschmiert, aber Johnny erkannte Freemantles Namen und die Adresse der Haftanstalt. Freemantle warf ihm den Umschlag herüber, und Johnny hob ihn auf. Er enthielt einen Zeitungsausschnitt. Kleine Papierfetzen lösten sich unter Johnnys Fingern. »Jemand musste es mir vorlesen«, sagte
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