Das letzte Kind
nicht mehr aus. Die Rechtsmediziner würden in ein paar Stunden wieder im Wald sein. Heute würden sie die letzten Leichen exhumieren. Vielleicht wäre Alyssa dabei. Vielleicht nicht. Vielleicht würde Johnny auftauchen. Andererseits ...
Wo bist du, Johnny?
Hunt öffnete das Fenster und ließ kühle Luft über seine Hände und Füße wehen. Ein feuchter Hauch strich über sein Gesicht, und für einen Moment ließ das Katergefühl nach. Er schaute hinaus auf das nasse Gras und die flachen, spiegelnden Pfützen. Dann machte er Kaffee und wartete darauf, dass die Sonne den trüben Himmel von Raven County wiederfand.
Sein Sohn schlief noch, als Hunt aus dem Haus ging.
Fahler Nebel hing in den schwarzen Bäumen.
Der Chief hatte die Besprechung für neun Uhr angesetzt — spät, nach polizeilichen Maßstäben —, aber so lange konnte Hunt nicht warten. Die Sonne hing noch tief über dem Gerichtsgebäude, als er die Main Street hinunterfuhr, links abbog und am Revier vorbeirollte. Schon standen die Übertragungswagen am Randstein. Kameraleute stampften mit den Füßen, Reporterinnen überprüften ihr Make-up. Sie wussten, dass die Polizei bald in Aktion treten würde. In langer, langsamer Kolonne würden sie zu dem schwarzen Wald am Stadtrand hinausfahren, wo die letzten Leichen aus dem feuchten Boden gegraben werden würden.
Die Story würde größer werden.
Der Tag war voller Chancen.
Hunt fuhr um den Block und auf den kleinen Parkplatz hinter dem Revier. Es war noch nicht sieben Uhr, aber Yoakum war schon da und wartete. Er saß auf der Kante der Betonmauer am südlichen Rand des Parkplatzes und lehnte an einem Maschendrahtzaun, der sich unter seinem Gewicht bog. Hinter ihm tranken wettergegerbte Männer mit Schutzhelmen Kaffee und aßen trockene Kekse, während Bulldozer und Kräne müßig warteten, feucht und stumpf in einem grauen Licht, das den Boden wie gefroren aussehen ließ. Eine Bank würde hier in die Höhe wachsen, dachte Hunt. Vielleicht ein Bürogebäude. Wahrscheinlich würde es Holloway gehören. Die Räder des Business würden sich weiterdrehen.
Yoakum war zerzaust und unrasiert. Eine Zigarette steckte in seinem Mundwinkel. Er nahm noch einen Zug und schnippte sie durch den Zaun, als Hunt ausstieg und die letzten fünf Meter auf ihn zukam.
»Morgen, John.« Hunt gab sich neutral und zurückhaltend. Über ihre Freundschaft bestand Einigkeit, und die Zweifel zwischen ihnen waren ein Gelände, das sie nicht betraten.
»Clyde.« Yoakum angelte eine neue Zigarette aus der Packung und zog sie zwischen den Fingern hindurch. Er zündete sie nicht an, und es fiel ihm schwer, Hunt ins Gesicht zu sehen. Er spähte zum Dach des Reviers hinüber und schaute dann auf seine Schuhe, an denen immer noch Lehm vom Brachland hinter Meechums Haus klebte.
Hunt wartete.
»Wegen letzter Nacht«, fing Yoakum an. »Ich war betrunken.
Ich hatte unrecht.«
Hunt verzog keine Miene. »Das ist alles?«
Yoakum zündete seine Zigarette an. »Ich war nicht ich selbst.«
Ein stählerner Blick voller Zweifel. Hunt schwieg, und Yoakum wechselte das Thema. »Haben Sie das hier gesehen?« Er nahm einen Stapel zusammengefalteter Zeitungen von der Mauer, auf der er saß.
»Schlimm?«
Yoakum zuckte die Achseln und reichte die Zeitungen herüber. Hunt blätterte sie durch. Die Schlagzeilen waren reißerisch. Er sah Fotos von den Vans der Rechtsmedizin, umrahmt von einem tiefen, geheimnisvollen Wald, Fotos von mageren Leichensäcken, die durch weit geöffnete Heckklappen eingeladen wurden. In den Artikeln wurde über die Zahl der Leichen spekuliert, und es gab Andeutungen über polizeiliche Inkompetenz. Ein Wachmann, hieß es, sei von einem namentlich nicht genannten Polizisten erschossen worden. Noch einmal wurde berichtet, wie Tiffany Shore gefunden worden war, und alle stellten dieselbe Frage: Wo ist Johnny Merrimon?
»Sie wissen, dass wir nach Johnny fahnden.« Hunt schüttelte den Kopf.
»Der Bengel ist ein verdammter Held.«
Da war etwas in seinem Ton, aber Hunt wusste nicht, ob es Verbitterung oder nur der Kater war. »Der Junge ist verschwunden.«
»Es war ja auch kein Vorwurf.« Yoakum deutete auf die Zeitungen. »Aber wir sehen aus wie Idioten.«
»Das ist heutzutage ein Berufsrisiko.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Sie sind vorn schon aufgefahren. Ein Dutzend Trucks. Haben Sie sie gesehen?«
»Sie haben meinen Namen noch nicht.« Er redete von Meechum, von dem tödlichen Schuss. »Für kein Geld der Welt würde
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