Das letzte Kind
vor.«
Aber Johnny hatte nichts weiter zu sagen. Er schloss die Tür und breitete die Karte auf der Küchentheke aus. Der Rotstift fühlte sich glatt an. Johnny strich mit der flachen Hand über die Falten im Papier und schob einen Finger auf das Viertel, das er in den letzten drei Wochen bearbeitet hatte.
Er wählte irgendeine Straße aus.
DREI
D etective Hunt saß an dem chaotischen Schreibtisch in seinem kleinen Büro. Auf Schränken und unbenutzten Stühlen türmten sich Berge von Akten. Überall schmutzige Kaffeebecher, Aktennotizen, die er nie gelesen hatte. Es war neun Uhr fünfundvierzig. Das Büro war ein Saustall, aber ihm fehlte die Energie, sich darum zu kümmern. Mit beiden Händen rieb er sich das Gesicht und presste die Augen in die Höhlen, bis er weiße Streifen und Funken sah. Sein Gesicht war rau und unrasiert, und er wusste, dass man ihm jedes seiner einundvierzig Jahre ansah. Er hatte so viel abgenommen, dass seine Anzüge schlotterten. Seit sechs Monaten war er nicht mehr im Fitnessraum oder auf dem Schießstand gewesen. Nur selten kam er dazu, mehr als eine Mahlzeit am Tag zu sich zu nehmen. Aber das alles war nicht wichtig.
Aufgeschlagen vor ihm lag das Büroexemplar der Akte Alyssa Merrimon. Ein abgegriffenes Duplikat war zu Hause in einer Schreibtischschublade eingeschlossen. Methodisch blätterte er die Seiten um und las jedes Wort: Berichte, Vernehmungsprotokolle, Zusammenfassungen. Alyssas Gesicht starrte ihm von einer vergrößerten Kopie ihres Schulfotos entgegen. Schwarzhaarig wie ihr Bruder. Die gleiche Knochenstruktur, die gleichen dunklen Augen. Ein Lächeln, in dem ein geheimes Einverständnis lag. Eine Leichtheit, die auch ihre Mutter hatte, eine ätherische Anmutung, die Hunt trotz aller Bemühungen nicht hatte fassen können. Waren es die Augen, die ein wenig schräg gestellt waren? Oder die anliegenden Ohren und die porzellanähnliche Haut? Die Unschuld? Dazu kehrte Hunt am Ende meistens zurück: Dieses Kind sah aus, als habe es im ganzen Leben noch keinen unreinen Gedanken gehabt und nie etwas Böses getan.
Und dann war da ihre Mutter. Und ihr Bruder. Sie alle hatten diese Unschuld, mehr oder weniger, doch nicht im gleichen Maß wie das Mädchen.
Hunt rieb sich noch einmal das Gesicht.
Es war zu nah, das wusste er, aber der Fall hatte ihn gepackt.
Ein Blick auf sein Büro zeigte, wie tief er abgestürzt war. Es gab Fälle hier, die bearbeitet werden mussten. Andere Leute. Lebendige Menschen, die nicht weniger litten als die Merrimons. Doch diese Fälle verblassten, und er wusste immer noch nicht, warum. Das Mädchen fand seinen Weg sogar in seine Träume. Dann trug sie die Kleider, die sie am Tag ihres Verschwindens getragen hatte: ausgeblichene gelbe Shorts, ein weißes Top. Sie war blass in diesen Träumen. Kurzhaarig. Etwa fünfunddreißig Kilo schwer. An einem heißen Frühlingstag. Der Traum begann ohne Einleitung, brach los wie ein Kanonenschuss und war sofort da, in Ton und Farbe. Etwas zerrte sie an einen dunklen Ort unter den Bäumen, schleifte sie durch warmes, moderndes Laub. Ihre Hand war ausgestreckt, der Mund offen, die Zähne sehr weiß. Er stürzte sich auf die Hand, verfehlte sie, und sie schrie, als lange Finger sie hinabzogen zu irgendeinem dunklen, fugenlosen Ort.
Wenn das passierte, wachte er schweißüberströmt auf und ruderte noch mit den Armen, als wühlte er sich durch Haufen von Laub. Der Traum kam zwei- oder dreimal in der Woche, und es war immer der gleiche. Irgendwann kurz vor drei stand er auf, zittrig und hellwach, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und starrte lange in seine blutunterlaufenen Augen, ehe er hinunterging und ein paar Stunden lang über der Akte brütete, bis irgendwann sein Sohn aufwachte und der Tag seine langen Finger nach ihm ausstreckte.
Der Traum war zu seiner privaten Hölle geworden, die Akte zu einem Ritual, einer Religion, die ihn bei lebendigem Leibe verzehrte.
»Guten Morgen.«
Hunt fuhr zusammen und blickte auf. In der Tür stand John Yoakum, sein Partner und Freund. »Hey, John. Guten Morgen.«
Yoakum war dreiundsechzig Jahre alt und hatte schütteres braunes Haar und einen grau melierten Kinnbart. Er war dürr, aber sehr fit, gefährlich gescheit und absolut zynisch. Sie waren seit vier Jahren Partner und hatten zusammen ein Dutzend schwere Fälle bearbeitet. Hunt mochte den Kerl. Yoakum war ein zurückhaltender Mann und ein Klugscheißer, doch er arbeitete mit einem außergewöhnlichen
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