Das letzte Kind
sie die falschen Tabletten zusammenmixte, konnte alles Mögliche passieren. Dann warf sie Sachen aus dem Fenster oder verbrannte sie im Garten, sie stand da wie ein Zombie, oder sie schrie laut, wie schmerzhaft es sei, sich zu erinnern. So etwas war mit den anderen Fotos seines Vaters passiert und auch mit den kleinen, heiligen Dingen, die einmal das Zimmer seiner Schwester angefüllt hatten. Sie waren in der Nacht verschwunden oder von dem Unwetter verzehrt worden, das aus seiner Mutter hervorkochte.
Auf dem Boden des Koffers lag eine grüne Mappe. Sie enthielt einen dünnen Stapel Landkarten und ein Foto von Alyssa im Format 20 x 28. Johnny legte das Foto zur Seite und breitete die Karten aus. Eine zeigte in einem großen Maßstab das County, wie es sich in den Osten North Carolinas schmiegte, nicht ganz in den Sandhügeln, nicht ganz im Gebirgsvorland oder in der Flutebene. Zwei Stunden weit von Raleigh entfernt, vielleicht eine von der Küste. Der nördliche Teil war raues Gelände: Wald, Sumpf und eine dreißig Meilen breite Granitformation, in die man früher einmal Tunnel getrieben hatte, um nach Gold zu suchen. Der Fluss kam von Norden herunter und zerschnitt das County in zwei Teile; er floss nur ein paar Meilen weit entfernt an der Stadt vorbei. Im Westen war dunkle Erde, vorzüglich geeignet für Weinbau und Landwirtschaft, und im Osten lagen die Sandhügel mit halbmondförmig verteilten, hochklassigen Golfplätzen und — weiter hinten — einer Reihe von kleinen, armen Städtchen, die sich mit Mühe am Leben hielten. Johnny war in einigen davon gewesen, und er erinnerte sich an Unkraut in der Gosse, verbarrikadierte Fabriken und Schnapsläden, an heruntergekommene Männer, die im Schatten hockten und aus Flaschen in braunen Papiertüten tranken. Fünfzig Meilen hinter den untergegangenen Städten fand man Wilmington und den Atlantik. South Carolina war ein fremdes Land jenseits der Karte.
Johnny schob die große Karte wieder in die Mappe. Die übrigen Karten waren detaillierte Straßenpläne der Stadt. Ein paar der Straßen waren mit roter Tinte markiert, kleine Kreuze zeigten einzelne Adressen. Notizen in seiner Handschrift säumten die Ränder. Manche Viertel waren noch unberührt, andere komplett durchgestrichen. Er betrachtete den Westteil der Stadt und überlegte, von welchem Viertel Jack geredet haben könnte. Er würde ihn fragen müssen. Später.
Er studierte die Karte noch einen Augenblick lang, dann faltete er sie zusammen und legte sie beiseite. Alyssas Sachen wanderten zurück in den Koffer, und der Koffer verschwand wieder unter dem Bett. Er nahm das große Foto und schob einen Rotstift in seine Gesäßtasche.
Er war draußen auf der Veranda und wollte die Haustür abschließen, als der Van in die Einfahrt bog. Der Lack auf der Haube blätterte ungleichmäßig ab, der Kotflügel vorn rechts war verbeult und rostig. Der Wagen rutschte in die Einfahrt und kam bebend zum Stehen. Johnny war halb erschrocken. Er wandte sich ab, rollte die Karte zusammen und steckte sie in die Tasche zu dem Rotstift. Das Foto behielt er in der Hand, um es nicht zu zerknicken. Als der Van stand, sah er durch das Fenster etwas Blaues aufblitzen. Dann wurde die Scheibe herabgelassen, und das Gesicht dahinter war ungewöhnlich blass und aufgedunsen.
»Steig ein«, sagte der Mann.
Johnny trat von der Veranda hinunter und überquerte das Fleckchen mit Gras und Unkraut. Bevor er die Einfahrt erreicht hatte, blieb er stehen. »Was machst du hier, Steve?«
»Onkel Steve.«
»Du bist nicht mein Onkel.«
Die Tür öffnete sich quietschend, und der Mann stieg aus. Er trug einen blauen Overall mit einem goldenen Abzeichen auf der rechten Schulter. Sein Gürtel war schwer und schwarz. »Ich bin ein Cousin deines Vaters. Ein Cousin ersten Grades, und das reicht. Außerdem hast du mich Onkel Steve genannt, seit du drei warst.«
»Onkel bedeutet, dass wir verwandt sind, und das bedeutet, dass wir einander helfen. Aber wir haben dich seit sechs Wochen nicht gesehen, und davor einen ganzen Monat nicht. Wo warst du?«
Steve hakte die Daumen hinter den Gürtel, und das steife Vinyl knarrte. »Deine Mom ist jetzt mit reichen Leuten zusammen, Johnny. Sie hat das große Los gezogen.« Er wedelte mit der Hand. »Ein kostenloses Haus. Muss nicht arbeiten. Verdammt, Junge, ich kann für sie nichts tun, was ihr Freund nicht tausendmal besser tun könnte. Ihm gehört die Mall, die Kinos. Ihm gehört die halbe Stadt, Herrgott. Da
Weitere Kostenlose Bücher