Das letzte Kind
von ihm ab. Er war ein Kind. Er hatte Angst. »Ehrlich ?«
Er sah so klein aus. »Ehrlich, Johnny.«
Johnny hielt die Karte hoch, und Hunt nahm sie. Das Papier war weich und abgegriffen und schimmerte weiß an den Knicken. Hunt setzte sich neben den Jungen auf den Randstein und breitete die Karte auseinander. Sie war groß, mit violetter Farbe auf weißes Papier gedruckt. Er sah, dass es eine Grundsteuerkarte war, mit Namen und Adressen, und sie zeigte nur einen Teil der Stadt, vielleicht tausend Grundstücke. Fast die Hälfte davon war mit Rotstift durchgestrichen. »Woher hast du die?«, fragte er.
»Von der Grundsteuerbehörde. Die kosten nicht viel.«
»Hast du sie alle? Für das ganze County?« Johnny nickte, und Hunt fragte: »Was bedeuten die roten Markierungen?«
»Das sind die Häuser, wo ich war. Die Leute, mit denen ich gesprochen hab.«
Hunt war sprachlos. Unfassbar, wie viele Stunden das gekostet und welche Strecken der Junge mit seinem klapprigen Fahrrad zurückgelegt haben musste. »Was ist mit denen, die ein Sternchen bekommen haben?«
»Unverheiratete Männer, die allein leben. Leute, bei denen ich Gänsehaut gekriegt hab.« Hunt faltete die Karte zusammen und gab sie zurück. »Sind auf deinen anderen Karten auch solche Markierungen?«
»Auf manchen.«
»Das muss aufhören.«
»Aber —«
»Nein, Johnny. Es muss aufhören. Das sind Bürger dieser Stadt. Wir bekommen Beschwerden.« Johnny stand auf. »Ich verstoße gegen kein Gesetz.«
»Gegen die Schulpflicht, mein Junge. In diesem Moment schwänzt du die Schule. Außerdem ist es gefährlich. Du weißt nicht, wer in diesen Häusern wohnt.« Er schnippte mit dem Finger gegen die Karte, und Johnny zog sie weg. »Ich will nicht noch ein Kind verlieren.«
»Ich kann auf mich aufpassen.«
»Ja, das hast du mir heute Morgen schon gesagt.«
Johnny schaute weg, und Hunt betrachtete den schmalen Kiefer und die Kinnmuskeln, die sich unter der straffen Haut spannten. Er sah, dass Johnny eine kleine Feder an einer Schnur um den Hals trug. Sie leuchtete weißlich-grau vor dem verwaschenen Hemd. Hunt zeigte auf die Feder, um von der Beklommenheit abzulenken. »Was ist das?«
Johnny hob die Hand zum Hals und schob die Feder unter sein Hemd. »Eine Stoppelfeder.«
»Eine Stoppelfeder?«
»Bringt Glück.«
Hunt sah, dass Johnnys Fingerknöchel wieder weiß wurden, und er sah, dass auch an dem Fahrrad eine Feder hing. Sie war größer und hauptsächlich braun. »Und die da?« Er zeigte darauf. »Falke? Eule?«
Johnnys Gesicht verriet keine Reaktion, und er antwortete nicht.
»Bringt die auch Glück?«
»Nein.« Johnny schwieg und schaute weg. »Die ist anders.«
»Johnny —«
»Haben Sie letzte Woche die Nachrichten gesehen? Als sie das Mädchen gefunden haben, das in Colorado entführt worden war? Sie wissen, wen ich meine?«
»Ich weiß, wen du meinst.«
•Sie ist ein Jahr verschwunden gewesen, und dann hat man sie drei Straßen weg von zuhause gefunden. Sie ist die ganze Zeit nicht mal eine Meile weit weg gewesen. Eine Meile weit von ihrer Familie, eingesperrt in einem Dreckloch in der Kellerwand. Eingemauert mit einem Eimer und einer Matratze.«
»Johnny —«
»Die Bilder kamen in den Nachrichten. Ein Eimer. Eine Kerze. Eine schmierige Matratze. Die Decke war nicht mal anderthalb Meter hoch. Aber sie haben sie gefunden.«
»Das war nur einer von vielen Fällen, Johnny.«
»Die sind alle so.« Johnny sah ihn an, und seine Augen waren noch dunkler. »Es ist ein Nachbar oder ein Freund, jemand, den das Mädchen kennt, oder ein Haus, an dem sie jeden Tag vorbeiläuft. Und wenn man sie findet, sind sie immer ganz in der Nähe. Selbst wenn sie tot sind, sind sie in der Nähe.«
»Nicht immer.«
»Aber manchmal. Manchmal doch.«
Hunt stand auf. »Manchmal«, sagte er leise.
»Nur weil Sie aufgeben, muss ich es noch lange nicht tun.«
Beim Anblick der verzweifelten Überzeugung des Jungen empfand Hunt tiefe Traurigkeit. Im Department war er als leitender Detective für Schwerverbrechen zuständig und hatte deshalb auch in Alyssas Fall ermittelt. Hunt hatte sich mehr als jeder andere Polizist darum bemüht, das arme Kind nach Hause zu holen. Er hatte Monate darauf verwandt und dabei den Kontakt zu seiner eigenen Familie verloren, bis ihn seine Frau schließlich frustriert und in stiller Wut verlassen hatte. Und wofür? Alyssa war verschwunden, so spurlos verschwunden, dass sie von Glück sagen könnten, wenn sie ihre Überreste
Weitere Kostenlose Bücher