Das letzte Kind
noch fänden. Es kam nicht darauf an, was in Colorado passiert war. Hunt kannte die Statistik: Die meisten waren am Ende des ersten Tages tot. Doch das machte nichts leichter. Er wollte sie immer noch nach Hause bringen. So oder so. »Die Akte ist nach wie vor offen, Johnny. Niemand hat aufgegeben.«
Johnny hob sein Fahrrad auf, rollte die Karte zusammen und steckte sie hinten in die Tasche. »Ich muss weiter.«
Detective Hunt griff nach der Lenkstange. Sie war rau von Rost und warm von der Sonne. »Ich hab dich an der langen Leine laufen lassen. Aber das kann ich nicht mehr. Es muss aufhören.«
Johnny zerrte an seinem Rad, bekam es jedoch nicht frei. Er wurde so laut, wie Hunt ihn noch nie gehört hatte. »Ich kann allein auf mich aufpassen.«
»Das ist es doch gerade, Johnny. Es ist nicht deine Aufgabe, auf dich aufzupassen. Das ist die Aufgabe deiner Mutter, und ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, dass sie auf sich selbst aufpassen kann, geschweige denn auf einen dreizehnjährigen Jungen.«
»Das glauben Sie vielleicht. Aber Sie wissen nichts.«
Der Detective schaute ihm lange in die Augen. Er sah, wie die Wut sich in Angst verwandelte, und begriff, wie sehr der Kleine seine Hoffnung brauchte. Doch die Welt war nicht gut zu Kindern, und Hunt hatte mit Johnny Merrimon eine Grenze erreicht. »Wenn ich jetzt dein Hemd hochhebe — wie viele Blutergüsse sehe ich dann?«
»Ich kann selbst auf mich aufpassen.« Es klang mechanisch und lahm. Hunt senkte die Stimme. »Ich kann nichts unternehmen, wenn du nicht mit mir redest.« Johnny richtete sich auf und ließ sein Fahrrad los. »Ich gehe jetzt zu Fuß«, sagte er und wandte sich ab.
»Johnny.«
Der Junge ging weiter.
»Johnny!«
Er blieb stehen, und Hunt schob das Fahrrad zu ihm heran. Die Speichen klickten, als die Räder sich drehten. Johnny griff nach dem Lenker, den Hunt ihm hinhielt. »Hast du meine Visitenkarte noch?« Johnny nickte, und Hunt atmete tief aus. Die Nähe, die er zu diesem Jungen empfand, konnte er nie ganz erklären, nicht einmal sich selbst. Vielleicht sah er etwas in dem Kleinen. Vielleicht konnte er ihm seinen Schmerz besser nachfühlen, als er sollte. »Behalte sie bei dir, okay? Ruf mich an, jederzeit.«
»Okay.«
»Und ich will nie mehr hören, dass du das hier tust.«
Johnny schwieg.«Du fährst jetzt auf dem schnellsten Weg in die Schule?« Schweigen. Hunt schaute zum reinen, blauen Himmel hinauf und sah dann wieder den Jungen an. Sein Haar war schwarz und feucht, und er biss die Zähne zusammen. »Sei vorsichtig, Johnny.«
VIER
D ie Leute waren nicht in Ordnung. Zumindest in diesem Punkt hatte der Cop recht. Johnny konnte nicht mehr zählen, über wie viele Zäune und in wie viele Fenster er gespäht hatte, und er hatte Dinge gesehen, die nicht in Ordnung waren. Dinge, die Leute taten, wenn sie glaubten, sie seien allein und niemand beobachtete sie. Er hatte Kids gesehen, die sich Drogen in die Nase zogen, und alte Leute, die Sachen aßen, die auf den Boden gefallen waren. Einmal hatte er einen Prediger gesehen, in Unterwäsche und mit puterrotem Gesicht, der seine Frau anschrie, während sie weinte. Da war alles im Eimer. Aber Johnny war kein Idiot. Er wusste, dass Verrückte aussehen konnten wie alle andern. Also hielt er den Kopf gesenkt. Er hatte seine Schuhe fest geschnürt, und er hatte ein Messer in der Tasche.
Er war vorsichtig.
Er war clever.
Johnny sah sich erst um, als er zwei Blocks weiter war.
Hunt stand immer noch auf der Straße, ein ferner Farbklecks neben einem dunklen Auto und grünem Gras. Einen Moment lang rührte sich der Cop nicht, dann hob er langsam den Arm und winkte. Johnny fuhr schneller und sah sich nicht noch einmal um.
Hunt machte ihm Angst, und Johnny fragte sich, woher der Cop wusste, was er wusste.
Fünf.
Die Zahl erschien in seinem Kopf.
Fünf Blutergüsse.
Er trat noch kräftiger in die Pedale, und seine Beine pumpten, bis das Hemd an seinem Rücken klebte wie eine zweite Haut. Er fuhr zum nördlichen Stadtrand, dahin, wo der Fluss unter der Brücke hindurchfloss und sich dann verbreiterte, bis die Strömung flach wurde. Johnny rollte die Uferböschung hinunter und ließ das Rad fallen. Das Blut hämmerte in seinen Ohren, in seinem Mund war ein salziger Geschmack. Seine Augen brannten davon, und er wischte mit einem schmuddeligen Ärmel darüber. Hier hatte er mit seinem Vater immer geangelt. Er wusste, wo man die Barsche fand und die riesigen Welse, die in anderthalb Metern
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