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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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an sich, aber Johnny beobachtete ihn trotzdem lange Zeit. Er beobachtete ihn, bis ihm der Nacken wehtat, dann ging er ins Haus, um nach seiner Mom zu sehen.

ZWEI
    D ie Vicodin-Flasche stand offen auf dem Waschtisch, und die Tür zum Zimmer seiner Mutter war geschlossen. Er öffnete sie einen Spaltbreit und sah, dass es drinnen halb dunkel war. Seine Mutter lag zugedeckt im Bett und regte sich nicht. Er hörte das Rasseln ihres Atems. Darunter war es tief und vollkommen still. Er schloss die Tür wieder und ging in sein Zimmer.
    Das Leder des Koffers unter seinem Bett war rissig, und die Scharniere waren schwarz angelaufen. Einer der ledernen Gurte war abgerissen, aber Johnny behielt den Koffer, weil er seinem Ururgroßvater gehört hatte. Der Koffer war groß und kantig, und wenn man ihn richtig neigte, konnte man das verblichene Monogramm immer noch sehen. JPM, stand da. John Pendleton Merrimon. So hieß auch Johnny.
    Er zog den Koffer heraus, legte ihn auf das Bett und öffnete die Schnalle an dem übrig gebliebenen Riemen. Der Deckel hob sich schwerfällig und lehnte dann an der Wand. An seiner Innenwölbung klebten ein Dutzend Fotos, eine Collage. Die meisten zeigten seine Schwester, aber auf zweien waren sie beide, deutlich erkennbar als Zwillinge, beide mit dem gleichen Lächeln. Er berührte eins der Bilder kurz und schaute dann die anderen Fotos an, die mit seinem Vater. Spencer Merrimon war ein großer Mann mit eckigen Zähnen und einem entspannten Lächeln. Ein Bauunternehmer mit rauen Händen, ruhigem Selbstbewusstsein und einer moralischen Festigkeit, die Johnny das Gefühl gab, es sei ein Glück, sein Sohn zu sein. Er hatte Johnny so vieles beigebracht: Auto zu fahren, den Kopf hochzuhalten, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Sein Vater hatte ihm beigebracht, wie die Welt funktionierte, was er glauben und worauf er sein Vertrauen setzen sollte: in die Familie, in Gott und in die Gemeinde. Was es bedeutete, ein Mann zu sein, hatte Johnny von seinem Vater gelernt.
    Bis zum Schluss, als sein Vater weggegangen war.
    Jetzt musste Johnny das alles in Frage stellen, all das, was er mit so viel Überzeugungskraft gelehrt worden war. Gott kümmerte sich nicht um Menschen, die leiden mussten. Nicht um die kleinen. Gerechtigkeit, Vergeltung, die Gemeinde — das gab es alles nicht, Nachbarn halfen ihren Nachbarn nicht, und die Sanftmütigen würden das Erdenreich nicht besitzen. Die Kirche, die Polizei, seine Mutter — keiner von denen konnte es in Ordnung bringen, keiner hatte die Macht dazu. Seit einem Jahr lebte Johnny mit dieser neuen, brutalen Wahrheit: Er war allein.
    Aber so war es eben. Was gerade noch Beton gewesen war, erwies sich am nächsten Tag als Sand. Stärke war eine Illusion, und Vertrauen war ein Scheißdreck. Na und? Dann war seine früher so strahlende Welt eben in einem kalten, feuchten Nebel versunken. So war das Leben, die neue Ordnung. Johnny konnte auf niemanden vertrauen als auf sich selbst; also musste es eben so laufen — auf seinem Weg, mit seinen Entscheidungen, und ohne einen Blick zurückzuwerfen.
    Er studierte die Bilder seines Vaters. Hier saß er am Steuer eines Pick-ups, lächelnd und mit Sonnenbrille. Da stand er entspannt auf einem Dachfirst, und der Werkzeuggürtel hing tief an seiner Seite. Er sah stark aus: sein Kiefer, die Schultern, der dichte Schnurrbart. Johnny suchte nach einer Ähnlichkeit mit seinem eigenen Gesicht, aber er selbst war zu zart, zu hellhäutig. Johnny sah nicht stark aus, doch das war nur oberflächlich.
    Er war stark.
    Das sagte er sich: Ich werde stark sein.
    Den Rest zuzugeben war schwerer; also tat er es nicht. Er ignorierte die leise Stimme in seinem Hinterkopf, die Kinderstimme. Er biss die Zähne zusammen und berührte die Bilder ein letztes Mal. Dann schloss er die Augen, und als er sie wieder öffnete, war die Regung vergangen.
    Er war nicht einsam.
    In dem Koffer lagen all die Dinge, die Alyssa am meisten vermissen würde, all das, was sie würde haben wollen, wenn sie wieder nach Hause käme. Er nahm die Sachen nacheinander heraus: ihr Tagebuch, das er nicht gelesen hatte, zwei Stofftiere, die sie schon seit einer Ewigkeit besaß, drei Fotoalben, ihre Schuljahrbücher, ihre Lieblings-CDs, eine kleine Kiste mit Briefchen, die sie in der Schule mit jemandem gewechselt und aufbewahrt hatte wie einen Schatz.
    Mehr als einmal hatte seine Mutter sich nach den Sachen im Koffer erkundigt, aber er hütete sich, ihr davon zu erzählen. Wenn

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