Das letzte Kind
brauchen Leute wie ich ihm nicht in die Quere zu kommen.«
»In die Quere kommen?«, wiederholte Johnny ungläubig.
»Das hab ich nicht —«
»Du hast Angst vor ihm«, sagte Johnny angewidert.
»Er zahlt mein Gehalt. Meins und das von ungefähr vierhundert anderen Leuten. Ja, wenn er sich an deiner Mom vergreifen würde oder so was ... das wäre was anderes. Aber er hilft ihr. Oder? Also, warum soll ich ihm in die Quere kommen? Dein Dad würde das verstehen.«
Johnny schaute weg. »Kommst du nicht zu spät zu deiner Schicht in der Mall?«
»Doch. Also steig ein.«
Johnny rührte sich nicht. »Was willst du hier, Onkel Steve?«
»Deine Mom hat angerufen und gefragt, ob ich dich zur Schule bringen kann. Sie sagt, du hast den Bus verpasst.«
»Ich gehe nicht in die Schule.«
»Doch, du gehst.«
»Nein, ich gehe nicht.«
»Mein Gott, Johnny. Wieso musst du alles so verdammt schwierig machen? Steig einfach ein.«
»Warum sagst du nicht einfach, du hast mich hingefahren, und lässt es damit gut sein?«
»Ich habe ihr versprochen, dass ich dich hinfahre, also muss ich es tun. Ich bleibe hier stehen, bis du einsteigst. Und wenn ich dich zwingen muss.«
Johnnys Stimme triefte von Verachtung. »Du bist kein Cop, Steve. Du bist bloß ein Wachmann. Du kannst mich zu nichts zwingen.«
»Leck mich«, sagte Steve. »Du wartest hier.« Er drängte sich an Johnny vorbei, und kleine Metallteile klirrten an seinem Gürtel. Die Uniform sah sehr steif aus und machte ein raschelndes Geräusch zwischen seinen Beinen.
»Was hast du vor?«
»Ich rede mit deiner Mutter.«
»Sie schläft«, sagte Johnny.
»Dann wecke ich sie. Du gehst nirgendwohin. Das meine ich ernst.« Dann verschwand er durch die Tür in dem kleinen Haus, das nach Alkohol und billigem Reiniger roch. Die Tür fiel klickend ins Schloss, und Johnny schaute zu seinem Fahrrad hinüber. Er könnte aufsteigen und weg sein, bevor Onkel Steve wieder herauskäme, aber es war nicht das, was jemand tat, der stark war. Also zog Johnny die Karte aus der Tasche und strich sie vor der Brust glatt. Er atmete tief durch und ging dann ins Haus, um das Problem zu lösen.
Drinnen war es still und noch immer halb dunkel. Johnny trat in den kurzen Korridor und blieb stehen. Die Tür seiner Mutter war weit offen, und Onkel Steve stand starr davor. Johnny beobachtete ihn einen Moment lang, aber Steve rührte sich nicht und sagte kein Wort. Johnny ging weiter und konnte einen schmalen Streifen des Zimmers sehen. Seine Mutter schlief immer noch; sie lag flach auf dem Rücken und hatte den Arm über die Augen gelegt. Die Bettdecke war bis zu dem Hüften heruntergerutscht, und Johnny sah, dass sie nichts anhatte und ganz still dalag. Onkel Steve stand einfach da und starrte sie an. Dann begriff Johnny. »Was zum Teufel?« Und lauter: »Was zum Teufel soll das, Steve?«
Onkel Steve zuckte schuldbewusst zusammen. Er hob die Hände und spreizte die Finger. »Es ist nicht so, wie du denkst.«
Aber Johnny hörte nicht zu. Mit fünf schnellen Schritten war er bei der Tür und zog sie zu. Seine Mutter hatte sich noch immer nicht gerührt. Johnny stellte sich mit dem Rücken vor die Tür und spürte, wie die Flammen in seine Augen stiegen. »Du bist ja krank, Steve. Das ist meine Mutter.« Er sah sich um, als suche er einen Stock oder einen Baseballschläger, doch da war nichts. »Was ist los mit dir?«
In Onkel Steves Blick lag nackte Verzweiflung. »Ich hab nur die Tür aufgemacht. Ich hatte nichts vor. Ich schwöre bei Gott, Johnny. So bin ich nicht. Ich bin nicht so einer. Ich schwöre. So wahr mir Gott helfe.«
Onkel Steves Gesicht glänzte von fettigem Schweiß. Er hatte erbärmliche Angst. Johnny hätte ihm am liebsten einen Tritt in die Eier verpasst. Ihn auf den Boden geworfen, das Rohr hinter seinem Bett hervorgeholt und ihm die Eier platt geschlagen. Aber er dachte an Alyssas Foto und an das, was er noch tun musste. Und er hatte gelernt in diesem Jahr. Er hatte gelernt, seine Gefühle zurückzustellen. Seine Stimme klang kalt und gleichmütig. Er hatte etwas zu tun, und Steve würde ihm dabei helfen. »Du sagst ihr, du hast mich in die Schule gebracht.« Johnny nickte und kam einen Schritt näher. »Wenn sie dich fragt, wirst du ihr das sagen.«
»Und du erzählst nichts?«
»Nicht, wenn du tust, was ich dir sage.«
»Ehrenwort?«
»Geh einfach, Onkel Steve. Fahr zur Arbeit.«
Onkel Steve schlüpfte an ihm vorbei. Er hielt noch immer die Hände hoch. »Ich hatte nichts
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