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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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»Vielleicht.«
    Hundert Meter weiter unten an der Straße parkte Johnny in einer dunklen Einfahrt und beobachtete, wie Hunts Wagen von seinem Haus wegfuhr. Er duckte sich, als Hunt vorbeiraste. Doch da, wo normalerweise seine Mutter parkte, stand noch ein zweiter Wagen. Johnny hatte sie gerade noch rechtzeitig gesehen: Hunts Auto und den Streifenwagen mit den dunklen Blinklichtern auf dem Dach. Er kaute an einem Fingernagel und schmeckte Erde. Er wollte nur nach seiner Mom sehen. Nur kurz. Aber die Cops Verdammt.
    Ein altes Ehepaar wohnte in dem Haus, vor dem er stand. An warmen Tagen saß der Mann auf der Veranda, rauchte selbstgedrehte Zigaretten und sah zu, wie seine Frau im Garten arbeitete. Sie trug dabei verschossene Hauskleider, die vorn auseinanderklafften und mehr weiße Haut und blaue Adern sehen ließen, als es nach Johnnys Meinung an einem menschlichen Körper geben sollte. Doch sie winkten und lächelten immer, wenn Johnny mit dem Rad vorbeifuhr — die Frau mit fleckigen Händen, der Mann mit fleckigen Zähnen.
    Johnny stieg aus und schloss die Wagentür. Ringsum raschelte und tropfte es. Frösche schnarrten auf den Bäumen, und Autoreifen rauschten über den Asphalt, als ein Wagen den Hügel herunterkam und sein Scheinwerferlicht gegen das geduckte Cottage warf. Gebückt lief Johnny um das Haus herum und arbeitete sich durch die Gärten zwischen dem Auto und seinem eigenen Haus. Er lief an Schuppen vorbei, die nach gemähtem Gras und Moder rochen, und an einem gefährlich schiefen Trampolin mit verrosteten Federn. Er duckte sich unter Wäscheleinen hindurch und kletterte über Zäune, und hinter den Fenstern sah er die Schatten von Nachbarn, die er kaum kannte.
    Als er sich dem Fenster seiner Mutter näherte, wurde er langsamer. In ihrem Zimmer brannte gelbes Licht, und als er den Kopf hob, sah er sie auf der Bettkante sitzen. Mit tränennassem Gesicht und schlammbespritzt, hockte sie zusammengesunken da wie eine Marionette mit durchschnittenen Schnüren. Sie hielt ein gerahmtes Foto in der Hand, und ihre Lippen bewegten sich. Sie strich mit der Fingerspitze über das Glas, ihr Rücken wölbte sich unter einer unsichtbaren Last. Aber Johnny empfand kein Mitgefühl. Was in seiner Brust aufblühte, war jäher Zorn. Sie benahm sich, als wäre Alyssa für immer verschwunden, als gäbe es überhaupt keine Hoffnung mehr.
    Sie war so schwach.
    Doch als sie das Foto schräg hielt, sah Johnny, dass es nicht das Bild seiner Schwester war, was seine Mutter so niedergeschmettert betrachtete.
    Es war ein Bild seines Vaters.
    Johnny ließ sich unter das Fenstersims. sinken. Sie hatte die Fotos doch verbrannt. Johnny erinnerte sich an den Tag; es war ein strahlender Nachmittag gewesen, mit einem Feuer im Garten und dem beißenden Geruch verkohlten Fotopapiers. Er sah es vor sich, als wäre es gestern gewesen: Drei Bilder hatte er seiner Mutter aus der Hand gerissen und war wie verrückt im Kreis herumgerannt, während sie hinterherstolperte und weinte und schrie, er solle sie zurückgeben. Und er wusste auch, wo diese drei Fotos waren. Eins lag in seiner Sockenschublade, und zwei waren in dem Koffer, den er für Alyssa aufbewahrte.
    Das Bild, das seine Mutter in der Hand hielt, war ein anderes. Es zeigte seinen Vater als jungen Mann mit offenem Mund und blitzendem Augen. Er trug Anzug und Krawatte und sah aus wie ein Filmstar.
    Einen Moment lang verschwamm das Bild vor seinem geistigen Auge. Johnny rieb sich mit den Fingerknöcheln die Nässe aus dem rechten Auge und lief durch den ungepflegten Garten zu den Bäumen. Er drängte sich wild in die Dunkelheit und versuchte den Anblick seiner Mutter mit diesem Foto zu vergessen. Er machte ihn traurig, und wenn er traurig war, war er schwach.
    Johnny spuckte auf den Boden.
    Diese Nacht war nichts für Schwächlinge.
    Ein schmaler Pfad führte ihn unter Bäumen hindurch, die den Nachthimmel mit einem so gewaltigen und dichten Laubdach schraffierten, dass es der Dunkelheit eine ganz neue Bedeutung verlieh. Jenseits dieses alten Bestandes lag eine verwilderte Tabakfarm. Die hohen Bäume blieben hinter ihm zurück. Giftefeu kroch über die kahle Erde, und Wolfsmilchstängel ragten über seinen Kopf. Nach hundert Metern sprang er über einen Bach, der angeschwollen und braun durch das Feld floss. Dornen rissen ihm die Haut von den Armen. Bei der alten Tabakscheune blieb er stehen und lauschte. Einmal hatte er hier zwei ältere Jungen angetroffen, die Gras rauchten. Das war

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