Das letzte Kind
Rechtsmediziners stand mit weit offener Hecktür am Rand des Vorgartens. Hinter dem gelben Absperrband warteten ein paar Reporter, aber Hunt beobachtete vor allem die Nachbarn. Die Straße wirkte beklemmend. Auf kleinen Grundstücken drängten die Häuser sich zusammen. Jemand hier wusste etwas. Es konnte nicht anders sein. Sein Blick wanderte hin und her und verweilte bei einem alten weißen Mann in einem vergilbten Hemd, auf einem schwarzen Jugendlichen mit verschlagenen Augen, Gangsteremblem und selbst gemachten Tattoos. Er musterte eine breitgesichtige Frau mit hängenden Brüsten und einem Kind auf jedem Arm. Sie wohnte nebenan, behauptete jedoch, nichts zu wissen.
Hab nichts gehört.
Augen voller Hass.
Hab nichts gesehen.
Einer der Hundeführer vom Revier kam um das Haus herum. Seine Kleidung war verdreckt, sein Gesicht ernst. Der Hund, ein schwarzer Mischling, schmiegte sich an seinen Oberschenkel. Seine Zunge baumelte aus dem Maul, und er starrte die Leichensäcke unverwandt an. Der Hundeführer schüttelte den Kopf. »Im Kriech-keller unter dem Haus und auf dem Grundstück ist nichts. Wenn es noch eine Leiche gibt, ist sie woanders.«
»Da sind Sie sicher?«, fragte Hunt.
»Absolut.« Mit der flachen Hand tätschelte er seinem Hund den Kopf.
Hunt empfand so etwas wie Erleichterung, aber auf dieses Gefühl wollte er nicht allzu sehr vertrauen. Nur weil Tiffany Shore nicht hier war, bedeutete das noch lange nicht, dass sie am Leben war. In seinen Eingeweiden spürte Hunt die Anwesenheit der Leichen hinter sich. »Ist es ausgeschlossen, dass der Hund von denen abgelenkt wurde?« Er deutete auf die Leichensäcke.
»Völlig ausgeschlossen.«
Hunt nickte. »Okay, Mike. Danke, dass Sie da waren.«
Der Hundeführer schnalzte mit der Zunge, und der Hund folgte ihm zur Straße.
Nichts. Sie hatten überhaupt nichts. Hunt dachte an das, was Johnny Merrimon über das Mädchen gesagt hatte, das man in Colorado gefunden hatte: eingemauert in einem Loch in der Kellerwand, ein Jahr lang gefangen gehalten mit einer Matratze, einem Eimer und einer Kerze. Der Abscheu saß wie ein Organ in seinem Bauch. Je mehr er darüber nachdachte, desto heftiger krampfte sich dieses Organ zusammen. Er versuchte sich vorzustellen, er wäre der Cop gewesen, der das Mädchen gefunden hatte. Was hätte er zuerst getan? Hätte er das Kind von der dreckigen Matratze aufgehoben, oder hätte er diesem Schwein sechs Kugeln ins Gesicht geschossen? Er fragte sich, ob er dazu fähig wäre: siebzehn Berufsjahre als Polizist zu vergessen und einfach abzudrücken.
Vielleicht.
Nicht nur vielleicht.
Er beobachtete, wie Trenton Moore die Leichen in seinem Wagen unterbrachte. Der Arzt sah so aus, wie Hunt sich fühlte: müde und grau, durchsichtig wie das Licht des Morgens. Als Moore auf die Veranda kam, roch Hunt einen Hauch von Kaffee und Formaldehyd, den Geruch des Leichenschauhauses. »Tut mir leid, dass ich Ihnen so schnell noch zwei geliefert habe«, sagte Hunt.
Mooren winkte ab. »Ich wollte Sie sowieso anrufen. Ich habe ein vorläufiges Ergebnis zu David Wilson.«
»Das ging flott.«
»Was soll ich sagen? Ich liebe meinen Job.«
Hunt ging ans Ende der Veranda, weg von der Tür und den Leuten, die ein und aus gingen. Moore folgte ihm. »Erzählen Sie.«
»Er hat noch gelebt, als er von der Brücke flog. Das hat der Junge ausgesagt, und mein Befund bestätigt es. Die meisten sichtbaren Verletzungen haben Sie gesehen. Arm- und Beinbruch, tatsächlich sogar multiple Frakturen. Die kompletten Einzelheiten stehen später im Abschlussbericht. Extensive Abschürfungen vom Kontakt mit Beton und Erde, Augenhöhlenfraktur links. Mehrere gesplitterte Rippen, ebenfalls links, massive Verletzungen der inneren Organe, innere Blutungen, ein punktierter Lungenflügel. Aber nichts davon war tödlich.«
»Das müssen Sie erklären.«
»Ich habe eine einzelne großflächige Quetschung an der Kehle gefunden.« Moore zeigte auf seinen Hals dicht über dem Schlüsselbein. »Die Larynx war zerquetscht, der Ösophagus ebenfalls. Unter massivem Kraftaufwand wurde der gesamte Atemweg bis zur völligen Zerstörung beschädigt.« Er machte eine Pause. »Wilson ist erstickt, Detective.«
»Aber er lebte noch, als Johnny ihn verließ. Er atmete und konnte sprechen.«
»Die Quetschung an seinem Hals weist ein Muster auf. Extrem undeutlich, nur in der Vergrößerung sichtbar, und nicht genug, um eine Abbildung zu bekommen. Doch es ist eindeutig
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