Das letzte Kind
als habe jemand über den Rand eines Papiers gemalt. Hunt warf einen Blick hinter das gelbe Rollo und bückte sich dann nach einem Gegenstand in der hinteren Ecke. Er fasste ihn bei den Rändern und hob ihn auf, und Yoakum kam herüber, um ihn zu betrachten. »Ist das ein Knopf?«, fragte er.
Hunt hielt den Gegenstand schräg und schaute ihn mit schmalen Augen an. »Das ist von einem Stofftier.«
»Was?«
Hunt sah genauer hin. »Ich glaube, es ist ein Auge.« Er streckte die Hand aus. »Geben Sie mir einen Beutel.« Yoakum reichte ihm einen Asservatenbeutel. Hunt ließ das Plastikauge in den Beutel fallen und verschloss ihn. »Das Zimmer soll nach Fingerabdrücken abgesucht werden.« Er richtete sich auf.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte Yoakum.
»Ich hab genug von dieser Scheiße.«
Hunt stürmte hinaus auf die Veranda. Noch immer standen die Leute in dichten Grüppchen zusammen, fasziniert vom Anblick der Polizisten, die keine unmittelbare Bedrohung darstellten. Als er sie da so stehen sah mit ihrer Selbstzufriedenheit und ihrer Geringschätzung, verwandelte sich sein Ärger in Wut. So laut, dass er weithin zu hören war, rief er: »Ich will mit jemandem reden, der weiß, was in diesem Haus vorgegangen ist.« Die Leute erstarrten. Ausdruckslosigkeit legte sich auf jedes Gesicht. Er hatte es schon eine Million Mal gesehen. »Hier sind Menschen gestorben. Ein kleines Mädchen ist verschwunden. Kann irgendjemand mir sagen, was sich in diesem Haus abgespielt hat?«
Sein Blick fand die zornige Frau mit den beiden Kindern auf den Hüften. Er nahm sie aufs Korn, weil sie eine Mutter war und weil sie gleich nebenan wohnte. »Alles könnte uns weiterhelfen.« Die Frau starrte ihn an, kalt und distanziert. Hunt musterte die Leute und nahm Wut und Misstrauen wahr. »Ein Mädchen ist verschwunden!«
Aber er war ein Cop in der falschen Straße. An der Ecke der Veranda lag eine Farbdose; das Etikett war weiß, der Deckel festgerostet. Mit einer Wildheit, die ihn selbst überraschte, trat er gegen die Dose. Sie flog in hohem Bogen in den Vorgarten, schlug auf dem Lehmboden auf und explodierte in einem Rülpser aus grauem Staub. Hunt starrte den Fleck an, und als er aufblickte, sah er den Chief am Randstein stehen. Er war gerade gekommen; der Motor seines Wagens lief noch. Mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn stand er vor der offenen Tür und schaute Hunt an. Ihre Blicke trafen sich für eine endlose Sekunde, und dann schüttelte der Chief den Kopf. Langsam. Resigniert.
Hunt wartete zwei Herzschläge ab und drehte sich dann zur offenen Tür um.
Der Geruch des Todes rollte über ihn hinweg.
NEUNZEHN
B urton Jarvis verließ den Schuppen um zwanzig nach sechs. Er war die ganze Nacht auf gewesen, high von Tequila und Speed, und jetzt brannte eine Zündschnur hinter seinen Augen, etwas Heißes und Helles. Etwas wie Angst. Er war wütend und unzufrieden und erfüllt von einer stechenden Reue, die nichts mit Recht oder Unrecht zu tun hatte. Sein Kopf schwirrte von den Gedanken an Konsequenzen und Risiken, von Dingen, die er wahrscheinlich nicht hätte tun sollen. Von Dingen, für die er geschnappt werden könnte.
Aber trotzdem ...
Er schwankte im feuchten, grauen Tunnel unter den Bäumen und spürte, wie ein breites Grinsen sein Gesicht zerteilte.
Aber trotzdem ...
Das Lächeln welkte, als er an dem großen Schloss herumfummelte, und starb, als ihm der Schweiß ausbrach. Er taumelte über den Pfad vom Schuppen zum Haus. Seine Augäpfel juckten, und es fühlte sich an, als habe jemand Wachs in seine Nasennebenhöhlen gegossen.
Jar war kein netter Mann. Das wusste er, aber es war ihm egal. Tatsächlich erfüllte es ihn sogar mit einem perversen Stolz, wenn er sah, wie junge Mütter ihre Kinder in den Straßenverkehr hinauszogen, nur um ihm nicht auf dem Gehweg zu begegnen. Nach neun Festnahmen und dreizehn Jahren hinter Gittern war ihm die Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse zur Religion geworden. Er war achtundsechzig, hatte borstiges Haar, zwei lockere Zähne und Augen, die aussahen wie rohe Austern. Drei Schachteln Zigaretten am Tag hielten ihn schlank, Schnaps und Drogen bewahrten ihn vor dem Knast. Sie stumpften ihn ab und nahmen den Orten, an die seine Gedanken sonst wanderten, den prickelnden Reiz. Genug Dope, und er kam über den Tag.
Meistens.
Jar bewohnte ein baufälliges Haus auf vier Hektar Land außerhalb der Stadt. Die zweispurige Landstraße schlängelte sich daran vorbei zur Müllkippe. Auf dem
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