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Das letzte Kind

Das letzte Kind

Titel: Das letzte Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Hart
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eines Speichelfadens in der Luft. Nichts davon ergab irgendeinen Sinn, aber es hing vor seinem geistigen Auge, frische Farbe auf Johnnys Gedächtnis. Dann brach der Schmerz los. Johnny setzte sich auf, und Höllenqualen überzogen seine Brust. Als er die Hand hob, war sie brennend rot. Er starrte seine Finger an und schaute dann weg. Er sah Jars Fußsohlen. Ein Bein des Alten zuckte.
    Was ist passiert?
    Ein Stein schrappte hinter ihm über die Straße. Die Pistole sah er zuerst, groß und schwarz und zitternd in verkrampften Händen, deren Fingerknöchel weiß waren. Die Finger waren klein, und die Nägel waren schmutzig. Die Muskeln an den dünnen Armen waren angespannt und konnten die Waffe kaum halten. Die Mündung malte wilde Kreise in die Luft. Ein schmutziges blaues Hemd hing bis zu den Knien herunter. Jars Name stand auf einem Aufnäher über der Brusttasche. Das Hemd hatte einen Ölfleck, und einer der unteren Knöpfe fehlte. Handschellen klirrten an ihren Handgelenken. Ihre Lippe blutete, wo sie hineingebissen hatte.
    Sie sah Johnny nicht an, als sie an ihm vorbeiging. Sie sah Burton Jarvis an, der mit der Ferse auf den Boden trommelte und die Finger krümmte.
    Johnny begriff. »Tiffany.«
    Sie beachtete ihn nicht. Er sah die geschwollenen Striemen an ihren Beinen, die rot gescheuerten Male unter den blitzenden Handschellen. »Tiffany, nicht.«
    Ihre Daumen fanden den Schlagbolzen. Es klickte zweimal metallisch, und Jars Bein wurde still. Als Johnny aufstand, konnte er Jars Gesicht sehen, die Augen, weit aufgerissen und silbern. Der alte Mann hob die Hand. »Nicht«, sagte er.
    Ein Blutstropfen rollte aus Tiffanys Nasenloch und hing zitternd an ihrer Oberlippe.
    Sie würde es tun.
    »Ich muss mit ihm sprechen.« Johnny hob die Hände. »Er weiß, wo meine Schwester ist.« Tiffany zögerte. Das Blut lief von ihrer Lippe über den Schneidezahn. Sie streckte die Arme vor sich aus.
    »Nein«, sagte Johnny.
    Aber sie drückte ab. Die Kugel durchschlug Jars Hand und fuhr zwischen seine Zähne. Der Kopf hüpfte einmal auf dem Asphalt. Das Bein lag still.
    Tiffany setzte sich auf die Straße und starrte ins Leere. Sie legte die Pistole neben sich, und Jars Blut floss an ihr Bein und staute sich dort. Johnny rannte zu dem Alten hinüber und fiel auf die Knie. Er packte Jars zerschmetterten Kopf, als könne er alles festhalten, was da heraussickerte, doch die Augen waren stumpf und leer, und das Silber hatte sich in Blei verwandelt. Eine Sekunde lang sah Johnny nur Schwarz, und dann schrie er. »Wo ist sie?« Er schrie die Frage heraus, schrie sie immer wieder, dann schlug er Jars Schädel auf die Straße, immer wieder, bis das harte Geräusch nur noch nass klang. Irgendwann hörte er auf.
    Er war zu spät gekommen.

EINUNDZWANZIG
    L evi erwachte desorientiert und mit verschwommenem Blick, und was ihn weckte, war ein Schuss. Er glaubte nicht, dass er aus der Nähe gekommen war, aber der Fluss machte komische Sachen mit dem Schall. Der Schuss konnte von überall hergekommen sein.
    Er blinzelte, bis er wieder klar sehen konnte. Da war die Erinnerung an einen Schmerz, und als er sich aufsetzen wollte, erwachte auch dieser Schmerz wieder. Etwas brannte in seinen Eingeweiden, und als er die Hand auf den Bauch legte, wurde sie rot. Er schaute nach und sah das abgebrochene Ende eines Astes, das aus seinem Bauch ragte, so dick wie ein Billardqueue, ein zackenförmiger Holzstumpf, der rechts unter den Rippen steckte. Er legte einen Finger auf das raue Ende und fühlte, wie der Ast sich tief in ihm bewegte. Er blinzelte die Tränen zurück und versuchte ihn herauszuziehen.
    Als er das nächste Mal aufwachte, war er klüger und ließ den Ast in Ruhe. Es tat weh, wenn er sich bewegte, aber nicht so sehr, dass er sich gar nicht mehr bewegen konnte. Er durfte nicht daran denken — also dachte er daran, nicht zu denken. Er rappelte sich auf den Knien hoch, legte die Stirn auf die Kiste und breitete die Hände aus. Er bat Gott um Kraft, damit er noch einen Tag durchhalten und tun konnte, was er tun musste. Sicher würde Gott mit ihm sprechen, doch als Levi die Augen öffnete, sah er eine Krähe auf einem Ast. Schwarzäugig und bewegungslos starrte sie die Kiste an, und Levi bekam plötzlich Angst. Er traute den Vögeln nicht. Sie waren zu still, beobachteten zu eindringlich, was die Menschen taten. Und es gab Geschichten über Krähen, Geschichten von der Großmutter seiner Großmutter, aus alten Zeiten — Geschichten über Krähen

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