Das letzte Kind
und die Seelen gerade Verstorbener.
Geschichten von Seelen, die sich brennend wanden auf ihrem langen Fall in die Tiefe.
Levi spreizte die Hände und beugte sich schützend über die Kiste. Die Krähe betrachtete ihn noch eine Sekunde lang und flatterte dann zu einem anderen Baumwipfel hinüber. Der Stamm war von einem Blitzschlag verkohlt, und die Astgabelung auf der Flussseite war tot und weiß. Der Vogel landete unter einem Dutzend Artgenossen, krächzte einmal und war wieder stumm. Keine Feder regte sich. Sie alle schauten Levi an, und etwas Kaltes berührte sein Herz. Ein Schwarm Totenvögel auf einem abgestorbenen Baum. Er hörte es wie ein Flüstern.
Ein Schwarm Totenvögel.
Die Stimme erschreckte ihn. Es war nicht Gottes Stimme. Sie klang ölig glatt und süß. Sie erfüllte seinen Kopf und trug den Geschmack von Zucker in seinen Mund. Er wollte aufstehen, und wieder durchfuhr ihn Schmerz, als sein Knöchel einknickte. Er biss die Zähne zusammen und rollte sich auf den Rücken. Heiße Luft stieg um ihn herum auf, und als er hochschaute, flatterten die Vögel mit raschelndem Flügelschlag auf, dass das tote Holz ächzte. Levi umfasste seinen Knöchel und fühlte, dass etwas nicht stimmte. Da war ein Kürbis aus geschwollenem Fleisch. Der Knöchel war verstaucht, vielleicht gebrochen. Vermutlich war es passiert, als er am Flussufer hinuntergerutscht war. Er hatte es gar nicht gemerkt. Aber jetzt spürte er es: Er drückte auf seinen Fuß, und eine Klinge fuhr durch seine Nerven, so scharf und gierig, dass er aufschrie.
Er schaute zu dem stahlgrauen Streifen Himmel hinauf und hörte wieder dieses seltsame Flüstern.
Ein Schwarm Totenvögel.
Die Stimme machte ihm Angst. »Wo bist du?«, fragte er flehentlich, und er meinte Gott. Aber niemand antwortete. Am Himmel waren keine Krähen mehr, doch das tote Holz wippte immer noch auf und ab und hin und her, nachdem die Vögel längst fort waren.
Es dauerte eine Stunde, bis Levi den Mut fand, es noch einmal zu versuchen und weiterzugehen. Als die Klinge wieder durch seinen Knöchel schnitt, begriff er, dass er kriechen musste. Also tat er es. Er kroch am Ufer entlang flussaufwärts und weinte leise, während er die Kiste hinter sich herzog.
ZWEIUNDZWANZIG
D er Parkplatz vor dem Krankenhaus war zu klein für die vielen Übertragungswagen. Sie standen so dicht zusammen, dass Charlie darum kämpfen musste, eine Gasse freizuhalten, falls ein Krankenwagen einen Patienten einlieferte. Das war Charlies Job: Er bewachte den Parkplatz, stand vor der Tür und hielt die Leute draußen. Er stand unter dem Vordach und blinzelte im grellen Scheinwerferlicht.
Dies war sein fünftes Interview.
Er hob den Arm, ohne auf die Leute zu achten, und hatte nur Augen für die Reporterin von Channel Four. Sie war im wirklichen Leben genauso hübsch wie im Fernsehen. Wie ein Filmstar. »Genau da.« Charlie zeigte hinüber. »Der Wagen kam da durch die Einfahrt, in richtigen Schlangenlinien. Hin und her. Er hat da den Beton gerammt, ist abgeprallt und hier vorn stehen geblieben.« Charlie bewegte wieder den Arm und zeigte auf die Stelle, an der er stand. »Zum Glück bin ich ziemlich flink.«
Die Reporterin nickte, und die Zweifel waren ihr nicht anzusehen. Charlie hatte einen Bauch, der für drei Männer gereicht hätte. »Erzählen Sie weiter«, sagte sie.
Charlie kratzte eine schüttere Stelle auf seinem Kopf. »Na ja, das war's ungefähr«, gab er an. Die Reporterin lächelte so strahlend, dass Charlie davon warm wurde. »Und es war Johnny Merrimon, der am Steuer saß?«
»Richtig. Ich kannte sein Gesicht noch vom letzten Jahr. Eigentlich auch schwer zu vergessen. Fast überall hingen Bilder von seiner Zwillingsschwester. Sie sind einander so ähnlich. Aber er war zerschnitten und schmutzig. Der Wagen war voller Blut.«
Die Reporterin wandte sich der Kamera zu. »Johnny dürfte dreizehn sein ...«
»Am Steuer eines Wagens hat er nichts verloren...«
»Aber das Mädchen bei ihm war Tiffany Shore.«
Charlie nickte. »Die, die vermisst wurde. Ja. Das war sie. Sie war ja auch in der Zeitung.«
»Hatten Sie den Eindruck, dass Tiffany verletzt war?« Ein Leuchten trat in die Augen der Reporterin. Die geschminkten Lippen öffneten sich und zeigten den Glanz ihrer vollkommenen Zähne.
Charlie nahm die Hand vom Kopf. »Von Verletzungen weiß ich nichts. Sie trug Handschellen und war völlig von Sinnen. Hat geheult und fing an zu schreien, als wir sie aus dem Auto holen wollten.
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