Das letzte Koenigreich
war aber trotzdem guter Dinge, weil er sich an meine Geschichten von Alfred erinnerte, die bestätigten, dass Wessex von Männern regiert wurde, die ihre ganze Hoffnung in den Christengott setzten, der inzwischen oft genug bewiesen hatte, dass er keinerlei Macht besaß. Wir hatten Odin, Thor und unsere Schiffe, und wir waren erfolgreiche Krieger.
Nach vier Tagen erreichten wir die Temesmündung und ruderten gegen eine starke Strömung flussaufwärts. Am Morgen war nur das Nordufer sichtbar, das noch zu Ostanglien gehörte, doch gegen Mittag zeichnete sich am südlichen Horizont das Land des ehemaligen Königreiches von Kent ab, das nun ein Teil von Wessex war. Am Abend hatten sich die Ufer bis auf eine halbe Meile angenähert, aber es gab immer noch nicht viel zu sehen, denn der Fluss führte durch eine leere, flache Sumpflandschaft. Wir nutzten die Gezeiten, indem wir uns von der Flut vorwärts treiben ließen, und legten uns in die Riemen, wenn uns das Wasser entgegenströmte. So zogen wir flussaufwärts, bis ich zum ersten Mal Lundene erblickte.
Bislang hatte ich Eoferwic für eine große Stadt gehalten, doch Eoferwic war, mit Lundene verglichen, nicht mehr als ein Dorf. Ich staunte angesichts der Ausmaße dieser Stadt, über der eine gewaltige Rauchwolke hing, gespeist aus zahllosen Feuerstellen. Lundene lag an der Grenze zwischen Mercien, Ostanglien und Wessex und wurde von Burghred von Mercien regiert, war also in dänischer Hand, und so trat uns niemand in den Weg, als wir uns jener erstaunlichen Brücke näherten, die den breiten Fluss überspannte.
Lundene. Von Bebbanburg abgesehen, sollte mir dieser Ort wie kein anderer ans Herz wachsen. Er war so lebendig und vielfältig wie kein zweiter. Alfred sagte mir einmal, dass jede Bosheit, zu der ein Mensch fähig sei, hier anzutreffen wäre, und ich bin durchaus froh, dass er Recht behalten hat. Während er für die Stadt betete, ließ ich es mir in ihr gut gehen. Ich kann mich noch sehr genau an meine ersten Eindrücke erinnern. Es war ein grauer, verregneter Tag, doch für mich erstrahlte die Stadt in einem geradezu magischen Glanz.
Im Grunde bestand Lundene aus zwei Städten, gebaut auf zwei Hügeln. Die eine Stadt, im Osten gelegen, stammte noch aus der Römer zeit. Von dort führte die mächtige Brücke hinüber ans sumpfige Südufer. Die stattlichen Gebäude waren von einem Ringwall umgeben, einem Steinwall, nicht aus Erde aufgeschüttet, sondern aus festem Mauerwerk, hoch und breit und von einem tiefen Graben gesäumt, in dem sich jetzt allerdings Schutt und Abfälle sammelten. Die Wehrmauer war an manchen Stellen eingestürzt und mit Hölzern notdürftig ausgebessert. Auch an den prächtigen Gebäuden im Inneren des Ringwalls hatte die Zeit genagt. Statt wie ursprünglich mit Ziegeln waren die Dächer nunmehr mit Stroh gedeckt. Es lebten nur wenige Mercier hier, denn in der alten Stadt zu wohnen war den meisten zuwider. Einer ihrer Könige hatte sich innerhalb der Mauern einen Palast errichten lassen, und auf der Hügelkuppe war eine große Kirche gebaut worden. Die überwiegende Mehrzahl der Einwohner jedoch lebte, weil sie Angst vor römischen Geistern hatte, außerhalb der Mauern in einer neuen Stadt aus Holz und Stroh, die sich nach Westen hin erstreckte.
Verfallen waren auch die Anlegestellen und Kais der alten Stadt, sodass am Ufer östlich der Brücke die verrotteten Pfeiler und zerbrochenen Planken wie faule Zähne aus dem Wasser ragten. Die neue Stadt lag wie die alte am Nordufer und war eine halbe Meile stromaufwärts auf einem flachen Hügel im Westen errichtet worden, entlang der Uferstraße, von der ein Kiesstrand zum Wasser führte. Nie wieder ist mir ein so hässlicher Strand vor Augen gekommen. Er war übersät mit Unrat, stinkenden Tierkadavern und den schleimigen Gerippen alter Kähne, zwischen denen kreischende Möwen umherschwirrten. Und ausgerechnet dort mussten wir mit unseren Schiffen anlanden.
Zuvor aber galt es, die Brücke hinter uns zu lassen. Wie es die Römer geschafft hatten, solch einen Bau zu errichten, wissen allein die Götter. Sie war so lang, dass sie ganz Eoferwic hätte überspannen können, ließ sich aber schon seit einiger Zeit nicht mehr in voller Länge nutzen, weil sie eingebrochen war. Zwei mittlere Bögen waren eingestürzt, und an ihrer Stelle ragten nur noch die römischen Stützen aus dem Wasser, die in kurzen Abständen tief ins Bett der Temes gerammt waren und von tückischen Strömungen umschäumt
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