Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Verlassen des Ladens registrierte sie zum ersten Mal den milden Wind, der durch die engen Straßen fegte. Hoch über den terrakottafarbenen Gebäuden wurde der Himmel langsam blau, wie sie nun sah, eine fremde und sommerliche Farbe, die nicht in den Dezember gehörte. Sie starrte ihre Handschuhe an und setzte sich in Bewegung.
Ihre Handschuhe waren alles, woran sie denken konnte.
Plötzlich öffnete sich vor ihr ein ovaler Platz. Ein marmorner Springbrunnen, umgeben von Straßencafés, die selbst jetzt geöffnet hatten, mitten im Advent. Sie setzte sich an einen Tisch nahe der Wand und bestellte einen Cappuccino.
Für einen Moment empfand sie so etwas wie Ruhe. Muntere Stimmen, Lachen und Schimpfen, Gläserklirren und schnarrende Opernklänge aus dem Lautsprecher über ihr vermischten sich zu etwas, das für sie zu Italien wurde; zu dem Italien, in dem sie in ihren Monaten jenseits der Welt Zuflucht gesucht hatte. Sie fischte eine Zigarette hervor, und noch immer trug sie die Handschuhe. Als sie auf ihr Feuerzeug drückte, hörte sie eine Stimme:
»Scusi …«
Langsam hob Hanne den Blick. Er blieb bei einem Paar roter Hände hängen. Für einen Moment stutzte sie. Sie mußte nachfühlen, ihre Hände suchen, sich davon überzeugen, daß sie noch da waren.
Jemand hielt zwischen zwei Fingern eine Zigarette und bat um Feuer. Die Hände trugen die gleichen Handschuhe wie Hannes. Genau die gleichen enganliegenden, feuerroten Kalbslederhandschuhe, für die Hanne eben erst ein kleines Vermögen bezahlt hatte.
»Scusi«, hörte sie noch einmal und schaute auf.
Die Frau, die sie ansah, lächelte. Als Hanne keine Anstalten machte, ihr Feuerzeug noch einmal zu betätigen, nahm die andere es ihr aus der Hand und gab sich selbst Feuer. Sie blieb stehen. Hanne starrte sie an. Die Frau lächelte nicht mehr. Sie stand mit der Zigarette in der Hand da und rührte sie nicht an, bis aus der Zigarette ein Stab aus Asche geworden war.
»Can I sit here?« fragte die Fremde endlich und ließ die Kippe auf den Boden fallen. »Just for a minute?«
»Of course«, erwiderte Hanne.
»Please do. Sit. Please.« Dann zog sie langsam die Handschuhe aus und steckte sie in die Tasche.
8
Brede Zieglers Wohnung in der Niels Juels gate lag in einem grauweißen, anonymen Gebäude im Bauhausstil der dreißiger Jahre. Billy T. schlängelte sich aus dem Dienstwagen und schaute an der Fassade hoch. Ein Knopf löste sich von seiner Jacke und verschwand im Schneematsch unter dem Auto.
»Hier können wir nicht parken«, sagte Severin Heger.
»Dann hilf mir. Der Knopf liegt irgendwo da unten.«
Billy T. stöhnte, richtete sich wieder auf und wischte sich die Hand an der Hose ab.
»Verdammt. Jetzt wird Tone-Marit alle Knöpfe ersetzen. Und die hier gefallen mir gerade. Schau du mal nach, ob du ihn findest.«
»Wir können hier nicht parken«, wiederholte Severin. »Die Karre blockiert die Einfahrt.«
»Ich parke, wo ich will, verdammte Pest«, sagte Billy T. sauer. »Außerdem ist es mitten am hellichten Vormittag. Das ist ein Wohnhaus. Niemand geht um diese Tageszeit hier aus und ein.«
Er warf seinen Dienstausweis auf das Armaturenbrett, wo er durch die Windschutzscheibe sehr gut zu sehen war, und schloß den Wagen ab.
»Wie viele Wohnungen gibt es hier eigentlich?«
Severin Heger zuckte mit den Schultern und schien mit dem Gedanken zu spielen, das Auto selbst woandershin zu fahren.
»Eins, zwei, drei …«
Billy T.s rechter Zeigefinger wanderte von einem Fenster zum nächsten. Mehrere waren vorhanglos; das Haus wirkte wie geblendet von der tiefstehenden Wintersonne, die soeben die Wolkendecke durchbrochen hatte.
»Ich tippe auf zwei pro Etage«, sagte er und ging die asphaltierte Einfahrt hinauf. »Das macht acht Wohnungen zusätzlich zu Zieglers großer ganz oben.«
Neben den doppelten Glastüren auf der Rückseite des Hauses fanden sie die Klingeln neben Messing-Namensschildern.
»Nichts da mit provisorischen Zettelchen, nein.«
Billy T. machte sich an einem umfangreichen Schlüsselbund zu schaffen. Endlich fand er den richtigen Schlüssel und öffnete die Tür. Der Eingangsbereich erinnerte an eine kleine Hotelrezeption. Der Boden war azur und grau gefliest, es roch ein wenig nach Salmiak. Die Wände waren hellgelb gestrichen und mit drei in schmale, schwarze Rahmen gefaßten grafischen Blättern versehen. An der gegenüberliegenden Wand waren Briefkästen in die Mauer eingelassen und mit den gleichen Messingschildern bestückt,
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