Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
wie es richtig, wie es sinnvoll gewesen war. Und dabei waren sie geblieben. Sie waren beieinandergeblieben, bis es Cecilie nicht mehr gab und Hanne glaubte, sterben zu müssen.
Die Sache mit Nefis lag anders. Nefis und Hanne waren erwachsene Menschen mit Wunden und Narben und einer Geschichte. Cecilie war neu gewesen, als alles neu und unberührt gewesen war und jede sich nach der anderen formen konnte, ohne daß das jemals wirklich gelungen wäre.
Hanne berührte die Karte mit den Lippen. Sie roch daran.
Sie wollte antworten. Sie sehnte sich danach, einige Worte zurückzuschicken, und verfluchte ihren Mangel an Umsicht. Was wußte sie denn schon – Nefis Özbabacan konnte in der Türkei schließlich der allerüblichste Name sein. Istanbul war groß.Wie groß? Nefis hatte erzählt, sie sei Mathematikprofessorin, doch auf englisch konnte »professor« ja auch eine Gymnasiallehrerin bezeichnen. In Istanbul gab es eine Universität. Da war Hanne sich sicher. Aber als sie sich das genauer überlegte, dachte sie, daß es auch mehrere geben konnte. In Istanbul wimmelte es vielleicht von Universitäten, Hochschulen, Lehranstalten. Wenn sie die Augen schloß und wieder den breiten Häusergürtel zwischen der Blauen Moschee und dem Bosporus vor sich sah, konnte sie diese vielen Institutionen darin nicht unterbringen, doch zugleich schüttelte sie den Kopf, denn sie wußte, daß sie niemals dort gewesen war.
Hanne hielt sich die Karte an die Lippen und dachte an Nefis.
Sie dachte an Cecilie. Sie dachte an die Wohnung, in die zurückzukehren ihr unmöglich erschien, solange überall Cecilies Fingerabdrücke hafteten; an den Wänden in der Küche, die Hanne sich blau gewünscht hatte, die aber gelb angestrichen worden waren, weil Cecilie das so wollte und weil Hanne ja doch nie Zeit zum Anstreichen hatte; am Sofa, das sie von Geld gekauft hatten, das sie gar nicht besaßen – Cecilie hatte es auf dem Rückweg vom Kino in einem Schaufenster gesehen und über ihr Krankenhaus ein zinsloses Darlehen erhalten können. Cecilie war überall, und Hanne wußte nicht einmal, wo ihr Grab lag.
Sie dachte an Cecilies Eltern. Die hatten in der Nacht, in der Cecilie gestorben war, Hand in Hand im grellen Licht des Krankenhauses auf dem Flur gesessen. Hanne hatte am Bett gesessen, ohne auch nur einmal daran zu denken, daß das ebenso der Platz der Eltern gewesen wäre.
Sie wußte, wo die beiden wohnten.
28
Thomas paßte gut auf Tigi auf. Diesem Kater sollte Frau Helmersen nichts antun können. Helmer war immer allein aus dem Haus gegangen, Tigi dagegen mußte in der Wohnung bleiben, bis Thomas aus der Schule kam. Dann aß er die Brote, die seine Mutter auf einem Teller in den Kühlschrank gestellt hatte, und gab Tigi etwas ab. Das durfte er zwar nicht, aber Tigi aß nun einmal sehr gern Leberwurst.
Wenn er Tigi die Treppe hinuntertrug, vorbei an Frau Helmersens Wohnungstür, hatte Thomas immer Angst. Frau Helmersen konnte doch jeden Moment herauskommen. Es war, als könne sie riechen, daß er angeschlichen kam. Oft steckte sie dann den Kopf aus der Tür. Selbst, wenn er so leise machte, wie er überhaupt nur konnte.
Thomas stand auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock und beugte sich vorsichtig über das Geländer. Er wollte Tigi nicht verlieren. Er hörte nur die Autos auf dem Kirkevei. Schnell streifte er seine Cherrox ab. Sie knirschten beim Gehen, und deshalb nahm er sie in die eine Hand und preßte mit der anderen Tigi an sich.
Auf halber Höhe der Treppe sah er, daß Frau Helmersens Tür angelehnt war. Er wollte schon kehrtmachen, aber weil er die Hände so voll hatte, ließ er Tigi los. Der kleine Kater sprang ein wenig ungeschickt die Treppe hinunter. Und verschwand in Frau Helmersens Wohnung.
Thomas spürte, wie ihm die Tränen kamen, und außerdem mußte er wieder, ganz dringend, dabei war er eben erst auf dem Klo gewesen. Er saß wie erstarrt auf der Treppe und wagte kaum zu atmen. Es passierte gar nichts.
Vielleicht war Frau Helmersen nicht zu Hause. Vielleicht war sie spazierengegangen und hatte einfach vergessen, ihre Tür zu schließen. Thomas’Vater nannte sie eine senile alte Kuh, wenn er glaubte, daß Thomas nicht zuhörte. Senil bedeutete vergeßlich, und vergeßliche Leute konnten natürlich leicht mal die Tür offenstehen lassen. Thomas passierte das auch manchmal, und er war nun wirklich nicht senil.
Vorsichtig schlich er die letzten Treppenstufen hinunter und dann weiter zur Tür.
»Hallo«, flüsterte
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