Das letzte Mahl: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Vater legte sein Buch beiseite und erhob sich. Zögernd hielt er Hanne die Hand hin. »Es ist so lange her.«
Hanne ließ sich in einen tiefen Sessel sinken. Der Apfelsinenduft schien immer intensiver zu werden.
»Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«
Für einen Moment war sie nicht sicher, wer gefragt hatte. Sie ließ ihren Blick vom einen zur anderen wandern und merkte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Auf dem Couchtisch stand eine riesige Schüssel voller Früchte in grellen Farben. Hanne kniff die Augen zusammen und wünschte, irgendwer möge das Licht dämpfen.
»Ich wollte dir das hier bringen.« Sie machte sich an dem Verschluß in ihrem Nacken zu schaffen.
»Für mich?«
Inger Vibe schlug die Hand vor den Mund, als habe sie soeben im Lotto gewonnen. Diese Geste ärgerte Hanne. Als sie die Kette überreichte, fielen ihre Bewegungen schroffer aus als beabsichtigt.
»Ich habe sie Cecilie vor vielen Jahren geschenkt. Zum Geburtstag. Sie hat sie geliebt, glaube ich, und …«
»Sie hat diese Kette immer getragen«, sagte Arne Vibe. »Immer.«
»Es ist nicht richtig, daß ich sie habe. Es war Cecilies Kette. Und deshalb bekommt ihr sie.«
Niemand bedankte sich. Die beiden wechselten einen Blick, der Hanne unsicher machte. Sie schwitzte immer mehr vor Verlegenheit und öffnete den Mund, um besser atmen zu können. Inger Vibe ging in die Küche. Ihr Mann strich über sein Buch, er nahm die Brille ab und lächelte, blieb aber weiterhin stumm. Sein Lächeln wirkte durchaus freundlich, doch es lag eine Neutralität darin, eine Form von Widerstand, die Hanne den Wunsch eingab, gleich wieder zu gehen. Sie hatte erledigt, was sie sich vorgenommen hatte. Das Schmuckstück war überbracht.
Das, was sich hier abspielte, hatte sie nicht gewollt.
Endlich kam Inger Vibe zurück. Sie stellte Hanne eine Tasse aus altem, dünnem Porzellan hin, schenkte Kaffee ein und bot ihr aus einer Schale mit hohem Fuß Plätzchen an.
»Ich wollte euch eigentlich nur danken. Und sagen … ich weiß nicht recht.«
»Verzeihung vielleicht?« Arne Vibe lächelte nicht mehr. Trotzdem war auch Milde in seinem markanten Gesicht, in dem Blick, der sich zum ersten Mal direkt auf Hanne richtete. »Vielleicht bist du hergekommen, um um Verzeihung zu bitten? Das könnte ich mir vorstellen.«
Es roch durchdringend nach Weihnachten. Das Bimmeln des ewigen Reigens, den die Messingseraphim auf der Fensterbank vollführten, schien lauter zu werden. Das Fenster wurde allmählich von Schnee verdeckt. Hanne brach in Tränen aus. Cecilies Eltern tranken Kaffee mit Milch. Sie tranken die zweite Tasse, und Hanne weinte noch immer.
»Ich weiß es nicht genau«, sagte sie endlich leise. »Vielleicht.«
Zwei Stunden später hatte das Ehepaar Vibe einen Schluck Likör in den Tassen. Hanne war zu Tee übergegangen. Sie trank aus einem großen Becher mit einem halb verwischten Bild des Eiffelturms und hatte den Eindruck, daß die Teeblätter alt waren. Die braune Flüssigkeit schmeckte nach Zwiebeln und Pfeffer und Haferflocken. Sie klammerte sich an die Tasse und zog die Beine hoch.
»Frierst du?« fragte Inger und legte ihr eine Decke um die Schultern.
»Nein.«
»Gut, daß du gekommen bist. Vielleicht hättest du das früher tun können. Das wäre für uns alle besser gewesen.«
Plötzlich beugte Arne sich über die Armlehne und löste ihre linke Hand von der Tasse. Er umschloß die Hand mit seiner und streichelte sie mit dem Daumen. Wenn sie sich richtig erinnerte, dann berührte er sie damit zum ersten Mal auf eine andere Weise als mit einem Händedruck.
»Unser Problem«, sagte er langsam, »ist, daß … wir konnten das nicht verstehen. Wir haben Cecilie nie abgewiesen. Wir haben dich nie abgewiesen. Im Gegenteil.«
»Meine Schuld. Alles zusammen meine Schuld. Alles und immer.«
Inger Vibe stand auf und trat vor das Panoramafenster. Sie legte die Stirn an die Scheibe und blieb mit hängenden Armen eine Weile so stehen, bis sie sich plötzlich umdrehte und sagt: »Das ist dein größter Fehler, Hanne. Und so hast du alle im Stich gelassen.«
»Das weiß ich.«
»Nein. Das weißt du nicht. Das ist ja gerade das Problem. Du glaubst immer, alles sei deine Schuld. Wenn du nur die Schuld auf dich nehmen kannst, dann fühlst du dich von allem freigesprochen. Entschuldigung, sagst du und glaubst, damit sei alles in Ordnung. Dein Schuldgefühl war dein Schutzschild gegen deine Umgebung. Du warst …«
Sie breitete die Arme aus auf eine Weise, die
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